Bibliographie und ausgewählte Texte. Zusammengestellt und herausgegeben von Matthias Kußmann (= Mainzer Bibliographien 1). Warmbronn 2004: Ulrich Keicher Verlag. 119 S. Enthält Gedichte und Prosa von Rainer Malkowski, einen Nachruf auf ihn von Walter Helmut Fritz sowie die bisher ausführlichste Bibliografie seiner Schriften.
Wahrnehmung als Ereignis. Weltpoesie aus Brannenburg am Inn
Rainer Malkowski, 1939 in Berlin geboren, zog sich im Alter von zweiunddreißig Jahren aus einem überaus erfolgreichen Berufsleben zurück und wurde ein von Kollegen, Kritikern und Lesern hochgeschätzter, mit bedeutenden Preisen geehrter Dichter. Seinem ersten Lyrikband Was für ein Morgen (1975) folgten acht weitere Gedichtbände sowie Kurzprosa, Essays, Aphorismen und Kinderbücher. Dazu kommt eine Vielzahl von Arbeiten für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk. Auch als Anthologist, Herausgeber und Interpret war Rainer Malkowski tätig. Von den frühen Siebzigerjahren bis zu seinem Tod im Jahr 2003 lebte er in Brannenburg am Inn, weshalb es auch die Bayerische Akademie der Schönen Künste ist, die seit 2006 alle zwei Jahre den Rainer-Malkowski-Preis verleihen darf. Dem Dichter und seinem Werk war 2015 eine Tagung gewidmet, die das Lyrik Kabinett München gemeinsam mit dem Institut für deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität veranstaltete. Ihr verdankt sich der vorliegende Band. Nicht nur Literaturwissenschaftler sollten ihn lesen.
Eines der großen Verdienste der Herausgeber ist es, Rainer Malkowskis zuerst 2001 in den Akzenten erschienene Dankrede für den Joseph-Breitbach-Preis mit dem Titel Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten sowie seine autobiografisch geprägte, 1996 zum ersten Mal gedruckte Betrachtung Lyrik – Bemerkungen über eine exotische Gattung neu zugänglich gemacht zu haben. Malkowski beginnt diese lesenswerte und lehrreiche Betrachtung mit der Beobachtung, dass ihm und anderen Lyrikern zwei Fragen besonders oft gestellt werden: »Warum schreiben Sie überhaupt Gedichte?« und »Können Sie davon leben?« Und sagt dazu: »Die Antwort auf die zweite Frage ist sehr kurz und geradezu beseligend zweifelsfrei. Sie heißt: nein. Die Antwort auf die erste Frage … ist länger …« Warum Gedichte? Sie seien, schreibt er, »jene Art von Genauigkeit, die die Ungenauigkeit, mit und in der wir leben, bewusst macht. Sie zielen auf Erkenntnis durch Vergegenwärtigung. Und sie zielen auf Totalität …« Erkenntnis? Sind Gedichte am Ende gar nützlich? Im programmatischen Gedicht Am Schreibtisch heißt es: »Die Nützlichkeit des Unnützen: / eine Rangfrage.« Welchen Nutzen man aus dem Werk dieses der präzisen Wahrnehmung des Alltags verpflichteten, skeptischen, unpathetischen, niemals hermetischen, unprätentiös und oft verblüffend lakonisch daherkommenden Sprachperfektionisten ziehen kann, machen die wissenschaftlichen Beiträge von Wulf Segebrecht, Walter Hettche, Theo Elm, Waldemar Fromm, Markus May, Norbert Miller und Gabriele von Bassermann-Jordan deutlich. Welchen Nutzen die Lyrik Rainer Malkowskis für ihr eigenes Schreiben hatte und immer noch besitzt, skizzieren Nico Bleutge, Gino Chiellino, Angela Krauß und Nadja Küchenmeister. Die internationale Beachtung, die Malkowskis Gedichte gefunden haben, führt Ali Abdollahi vor Augen, sein Übersetzer ins Persische. Und wenn man die drei Seiten von Malkowskis langjährigem Verleger Michael Krüger liest, der von einem »hochreflexiven Dichter« spricht, »der alles tat, um nicht durch besondere Reflexionen aufzufallen«, und ihn als genialen Minimalisten bezeichnet, »der nie viele Worte machte« – dann dürfen einem auch mal die Tränen kommen. Vom Rätsel ein Stück ist eine wunderbare Einladung, Rainer Malkowskis Gedichte und Aphorismen (wieder) zu lesen.
Waldemar Fromm / Holger Pils (Hrsg.): Vom Rätsel ein Stück. Beiträge zum Werk des Dichters Rainer Malkowski. Göttingen 2017: Wallstein Verlag. 228 S.
Große Poesie – mit bayerischen Wurzeln. Der Dichter Paul Wühr und sein Erklärer Jörg Drews
In den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ist der durch sein Kultbuch Gegenmünchen (1970) und sein innovatives O-Ton-Hörspiel Preislied (1971) einem größeren Publikum bekanntgewordene Dichter Paul Wühr – 1927 in München geboren, nach dem Krieg zunächst einmal Volksschullehrer – öfter durch die damals angesagten Münchner Stadtteile Schwabing oder Haidhausen gezogen. Im Schlepptau des am 12. Juli 2016 an seinem langjährigen Wohnort Passignano am Lago Trasimeno (Umbrien) gestorbenen Poeten zogen immer einige seiner Bewunderer und Fans mit, darunter seit 1983 auch viele, die sich an der Münchner Uni im legendären Hauptseminar von Volker Hoffmann über Das falsche Buch kennengelernt hatten.
Und oft zog auch Jörg Drews mit um die Häuser. Der 1938 geborene Philologe und Kritiker, der bis kurz vor seinem Tod (2009) als Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld wirkte, war über Jahrzehnte hinweg eng mit dem Lyriker, Prosaschriftsteller und Hörspielautor und dessen Partnerin Inge Poppe befreundet. Eine der gemeinsamen Spielwiesen der beiden Literaten war die damals von ihr geleitete Autorenbuchhandlung in der Schwabinger Wilhelmstraße, eine andere das Bielefelder Colloquium Neue Poesie.
In dem vom Literaturwissenschaftler Thomas Combrink herausgegebenen Band Lob des krummen Holzes. Über Paul Wühr sind die wichtigsten, zwischen 1971 und 2007 veröffentlichten Kritiken von Jörg Drews zum Werk des Dichters versammelt. Gegenstand seiner kritischen Bemühungen sind das »anarchistische Epos« Gegenmünchen, der Gedichtband Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne, das Langgedicht Rede, der Roman Das falsche Buch, das Tagebuchwerk Der faule Strick, die Lyrikbände Sage, Salve res publica poetica und Venus im Pudel sowie das Buch Luftstreiche. Dazu kommen drei Aufsätze, die zuerst in anderen Publikationen über Paul Wühr erschienen sind und sich mit dem Gedichtband Dame Gott, dem Gedicht Um uns atmet sowie »Paul Wührs und Walter Kempowskis Gespräch mit deutschen Dichtern der Vergangenheit und mit Alltagsdokumenten« beschäftigen. Auch ein Drews-Essay über Paul Wührs Hörspiele ist enthalten. Aufgenommen wurde zudem die Laudatio auf den Dichter bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld (2003) sowie die entsprechende, Grundzüge seiner Poetologie skizzierenden Dankrede. Der Band beginnt mit mehreren Gedichten aus dem Band An und Für, die eigens für Jörg Drews geschrieben wurden, und er endet mit einem knappen Nachruf auf den Freund, den Wühr im März 2009 im Münchner Lyrik Kabinett vorgetragen hat: »Jetzt habe ich meinen Erklärer verloren. Ich muss schon sagen: Jetzt ist er mich los. Und das macht mich mehr als traurig!« Der Enthusiasmus von Jörg Drews leite sich aus dessen philologischem Interesse ab, betont Thomas Combrink in seinem Nachwort. »Drews reizt Literatur, die herausfordert und zum Nachdenken anregt. Die Freude am Text resultiert aus den Fragen, die sich aus der Lektüre ergeben. Es ist die Verunsicherung, der Grad der Irritation, der den Rang eines Romans oder Gedichtbandes ausmacht.« Was für ein bedeutender Dichter Paul Wühr und was für ein scharfsinniger Interpret Jörg Drews gewesen ist – in diesem Buch kann man es nachlesen.
Jörg Drews: Lob des krummen Holzes. Über Paul Wühr. Mit drei Beiträgen von Paul Wühr. Hrsg. von Thomas Combrink. Bielefeld 2016: Aisthesis Verlag. 195 S.
Fallobst aus Schwabing. Kurze Notiz zu Hans Magnus Enzensberger
Der 11. November 2019, Martinstag und Faschingsanfang, war ein besonderer Tag für die deutsche Literatur. Kein Fernsehzuschauer, kein Radiohörer und kein Zeitungsleser konnte es übersehen: Hans Magnus Enzensberger wurde neunzig! Runder Geburtstag eines Weltstars der Literatur! Der Medienrummel war gewaltig. Kein Porträt, das seinen Kosmopolitismus, seine Vielsprachigkeit, sein Heimischsein in den Literaturen dieser Welt nicht erwähnte – seine einen radikal neuen Ton in die deutsche Lyrik bringenden Gedichte sowieso, das Kursbuch ebenfalls. In Italien hat er gelebt, in Norwegen, Frankreich, den USA und Kuba, und viele, sehr viele andere Länder hat er ausführlich bereist. In den meisten Geburtstagsgrüßen kam auch Bayern vor. Aber eher unter »ferner liefen«.
In sein jüngstes Buch mit dem schönen Titel Fallobst hat HME einen Text vom