Klaus Hübner

HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER


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brillante Bilanz. Persönlich und doch repräsentativ – Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

      Nicht der kluge Adolf Muschg und nicht der listige Peter Bichsel – nein, Markus Werner aus dem Schaffhauser Land, der gerade mit seinem Roman Am Hang Furore macht, gilt einem der originellsten deutschen Literaturjournalisten als würdig, die Schweiz in seiner Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu vertreten. Der Berliner Kritiker Helmut Böttiger macht in der Einleitung zu seinem Band über die deutschsprachige Literatur seit 1989 zuerst einmal klar, dass Literatur für ihn traditionsbewusste und eigensinnige Sprachkunst ist und nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, rasch konsumierbare und medienkompatible Zeitmitschrift. Die Dichter, die seiner Überzeugung nach für modernes Schreiben maßgeblich sind, heißen Robert Walser, Franz Kafka oder Paul Celan. Große Namen, hoher Anspruch – wer nun aber meint, hier äußere sich ein unkritischer Anhänger der frühen Moderne des 20. Jahrhunderts oder gar ein das heutige Event- und Medienzeitalter ignorierender, womöglich auch noch konservativer Literaturliebhaber, der täuscht sich gründlich. Böttiger kennt alles und jeden im vielfältigen Getümmel der Gegenwartsliteratur. In seinem Buch jedoch haben nur Autoren Platz, deren Werk seiner Beobachtung nach »bereits erkennbar ist und deren Namen man auch in zwanzig Jahren noch kennt«. Oder anders: »Welche Schreibweisen sind zu erkennen, die etwas über die Zeit aussagen, ohne dass sie in dieser Zeit befangen bleiben? Es sind äußerst unterschiedliche Schriftsteller versammelt, deren Gemeinsamkeit einzig darin besteht, dass sie dieser Frage standhalten.« Das ist ein legitimer Anspruch – wie sonst sollte man Gegenwartsliteratur fundiert dar- und nicht nur Buchtitel und Autorennamen locker nebeneinanderstellen? An diesem Anspruch ist das Buch zu messen, und es ist müßig, auf all die Schriftsteller hinzuweisen, die bei Böttiger nicht vorkommen, oder auf wichtige Trends wie die Literatur nicht-deutscher Muttersprachler, die Böttiger wenigstens kurz erwähnt. Sicher, im Untertitel könnte auch »meine« stehen – am Ende ist es aber dennoch »eine Geschichte«, persönlich, aber auf originelle Weise eben auch repräsentativ.

      Sechs Kapitel enthält das Buch. Zur Einstimmung »Die Platzhirsche«: Günter Grass, Christa Wolf, Martin Walser und Peter Handke. »Humor und Melancholie« enthält ein liebevolles Porträt des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino, zu dem sich der erwähnte Markus Werner und der einzige hier vorkommende tote Dichter, Thomas Strittmatter aus dem Schwarzwald, gesellen. Böttigers besondere Zuneigung gilt der »späten Moderne des Ostens« – hier wird auf Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl, Durs Grünbein, Kathrin Schmidt, Herta Müller und, sieh an, Fritz Rudolf Fries aufmerksam gemacht. Dann geht es unter der Überschrift »Das Wissen, die Leere, das Ich« um Botho Strauß, Ulrich Peltzer, Marcel Beyer, Ernst-Wilhelm Händler, Robert Menasse und Ingo Schulze. Das Kapitel »Rhythmusgefühl« rubriziert Elfriede Jelinek und Brigitte Kronauer sowie drei Autoren mit Vornamen Thomas: Kling, Meinecke und Lehr. Auch im Schlussteil liest man eine Menge Anregendes, unter anderem über Hans Magnus Enzensberger und Judith Hermann. Den meisten Porträts und Reflexionen wird man das Epitheton »brillant« kaum absprechen wollen, und oft ist es schon der erste Satz, der den Leser gefangen nimmt. Böttiger hat einen feinen, dabei immer pointierten Stil entwickelt, der sich mit seinen hohen Ansprüchen an wahre Literatur bestens verträgt. Ob man alle seine Urteile teilt oder nur manche – Nach den Utopien ist auch für stil- und sprachbewusste Leser ein beglückendes Erlebnis.

      Helmut Böttiger: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien 2004: Zsolnay Verlag. 310 S.

      

      Splitter eines Lebens. Bezwingende Prosa von Jürgen Becker

      Im Jahr 2014 erhielt der 1932 in Köln geborene Jürgen Becker den renommierten Büchner-Preis, und das ganze Land war sich einig: Er habe den Preis mehr als verdient, und die Auszeichnung komme Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu spät. Beides ist richtig. Ein grandioser Autor von Gedichten und Prosa, die Hörspiele nicht zu vergessen, das ist dieser Künstler seit mehr als fünfzig Jahren. Bände wie Felder (1964) oder Ränder (1968) fanden bei Insidern oft bewundernde Beachtung, doch erst Erzählungen wie Der fehlende Rest (1997) und Romane wie Aus der Geschichte der Trennungen (1999) machten den mit der Künstlerin Rango Bohne im Bergischen Land lebenden Rundfunkmann einem größeren Publikum bekannt. Viele Leser sind inzwischen süchtig nach seiner präzisen, gelassenen und im mehrfachen Wortsinn coolen Prosa. Auch Beckers neuer »Journalroman« bietet eine glänzende Gelegenheit zum Süchtigwerden.

      Natürlich hat der Autor von Schnee in den Ardennen (2003) den »Journalroman« nicht erfunden – aber er hat ihn perfektioniert, hat »Journalsätze« zu souveräner, unverwechselbar rhythmisierter Prosa geordnet. In einigen seiner Bücher taucht ein gewisser Jörn Winter auf, und in Jetzt die Gegend damals ist er wieder da: eine Figur, die für ihren Autor eine eigenständige Identität besitzt, hinter der man aber unschwer den Schriftsteller Jürgen Becker erkennt. »Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt« – so geht es los. Jörn erinnert sich, beobachtet, überlegt, und weil er von längst Vergangenem ebenso erzählt wie von Heutigem wie etwa der Griechenland-Krise, passt der Buchtitel ganz wunderbar. Auch weil klar ist: »Was ich heute erlebe, ist nicht mehr das, was mir im nächsten Jahr die Erinnerung an den heutigen Tag dazu sagt.« Seit je ist Becker fixiert auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen, auf die prägenden Jugendjahre, die er im nach und nach zerbombten Köln, in Thüringen oder an der Ostsee verbracht hat. Auch bekannte Becker-Motive wie der Schnee, die Vögel, die Felder und Gehöfte, das Autofahren, der Bahnhof von Erfurt oder der Hafen von Ostende fehlen nicht. »Um was geht es dir denn?«, wird Jörn gefragt. »Es gibt kein Konzept, sagt er, aber ich möchte herausfinden, was ich noch sagen kann, was ich noch weiß.« Er weiß noch viel, sehr viel, und er kann es sagen, auch im Alter.

      Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Journalroman. Berlin 2015: Suhrkamp Verlag. 162 S.

      

      Literatur als Lebenshilfe. Über Christa Wolf (1929 – 2011)

      Für Besucher der deutschen Hauptstadt ist der Dorotheenstädtische Friedhof im Bezirk Mitte, gleich hinter dem Brecht-Haus in der Chausseestraße, ein Muss. Brecht selbst ist dort beerdigt, Hegel, Fichte, Heinrich Mann und viele andere große Autoren und Intellektuelle. Unweit der Gräber von Hans Mayer, Günter Gaus und Stephan Hermlin findet man dort auch die Grabstätte von Christa Wolf. Die weltweit anerkannte Schriftstellerin ist am 1. Dezember 2011 nach langer Krankheit gestorben. Was macht ihren Ruhm und ihre Bedeutung aus?

      Die 1929 in Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski) geborene Christa Ihlenfeld macht 1949 Abitur. Im gleichen Jahr wird die »Deutsche Demokratische Republik« (DDR) gegründet. Die deutsche Literatur soll das Leitmedium sein beim Aufbau eines demokratischen Sozialismus, und die junge Frau, seit 1951 mit dem ein Jahr älteren Gerhard Wolf verheiratet, will dabei mithelfen. Christa Wolf wird Lektorin, Literaturkritikerin und Redakteurin der Zeitschrift neue deutsche literatur. Wie eine zeitgemäße sozialistisch-realistische Literatur aussehen könnte, zeigt ihr literarisches Debüt Moskauer Novelle (1961). Richtig bekannt macht Wolf der Roman Der geteilte Himmel (1963). In Rückblenden und inneren Monologen wird vom Leben der Rita Seidel erzählt, die in »den letzten Augusttagen des Jahres 1961« im Krankenhaus erwacht (am 13. August 1961 wurde die »Berliner Mauer« errichtet). Ihr durch die Arbeiter ihrer Brigade befeuertes Engagement für den Aufbau des Sozialismus entfremdet sie vom geliebten, prinzipiell DDR-skeptischen Chemiker Manfred Herrfurth, der am Ende die Republik verlässt, während Rita in der DDR bleibt. Vor allem weil die Autorin das Tabuthema Republikflucht ins Zentrum stellt, wird Der geteilte Himmel ein großer Erfolg in Ost- wie in Westdeutschland. Doch das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED Ende 1965 bereitet Christa Wolfs früher Karriere ein jähes Ende. Die Folge ist ein psychischer Zusammenbruch.

      Der Roman Nachdenken über Christa T. (1968), der in engem Zusammenhang mit dem poetologischen Essay Lesen und Schreiben (1968) steht, entfaltet erstmals ein wichtiges Lebensthema der Autorin: Psychosomatisches, Krankheit und Tod. In Rückblenden, Träumen und Reflexionen wird über eine kürzlich an Leukämie gestorbene