Romane und Erzählungen – Schott (1992), Trivialroman (1998), Anders (2003), Vorbei (2007), Kokoschkins Reise (2010) und Sire, ich eile (2012) sind nur die bekanntesten von ihnen. Mit alledem beschäftigt sich Theo Bucks Buch – gründlich, ausführlich, und nicht zuletzt: lesbar. Aber auch distanzlos und unkritisch. Quasi unter der Hand ist dem Germanisten seine bis 2014 reichende Gesamtdarstellung zur Hagiografie geworden.
Unumstritten aber war Schädlich nie: zu sehr dem Konjunktiv verhaftet, zu nüchtern, zu akten- und wörterbuchlastig, zu verknappend, kurzum: zu wenig poetisch – das waren die Haupteinwände gegen seine von Ironie, Satire und Spott durchsetzte semidokumentarische Prosa. Die bisher schärfste Attacke ritt der Kritiker Burkhard Müller, der in seiner Rezension von Narrenleben (2015) Schädlichs viel gerühmten lakonischen Stil als »Defekt« bezeichnete: »Seine Kargheit führt zu einem Mangel an Anschauung, blassen Charakteren und emotionaler Anämie.« Das abgründige Gefälle zwischen Macht und Geist, eines von Schädlichs Hauptthemen, werde derart knapp und dröge dargestellt, dass seine Prosa nach »rein gar nichts« schmecke.
Das sitzt, auch wenn es nicht stimmt. Die schon in Sire, ich eile bravourös vorgeführte Methode einer durch poetische Verdichtung rhythmisierten fiktionalisierten Geschichtsschreibung funktioniert auch in Narrenleben. Es geht um zwei geistreiche Hofnarren, die sich jeder Herrschaft andienen müssen, um existieren zu können – zwei deutsche Untertanen aus dem 18. Jahrhundert, die dem dreißig Jahre zuvor gezeichneten Tallhover gar nicht so unähnlich sind. Man darf Narrenleben als Alterswerk sehen – als solches aber ist es, schnörkellos und fast nebensatzfrei, ein unterhaltsames und lehrreiches Lesevergnügen. Was für wohl alle Werke dieses höchst sprachsensiblen und allem Geschwätz abholden Künstlers gilt – wer's nicht glaubt, besorge sich die zehnbändige Werkausgabe, die der Rowohlt Taschenbuch Verlag zu Ehren Hans Joachim Schädlichs herausgebracht hat.
Versuchte Nähe war ja nicht wegen seiner sehr selten expliziten DDR-Kritik ein Riesenerfolg, sondern weil Schädlich so präzise beobachtete und so gradheraus schrieb, dass man um eine politische Wertung seiner Prosa gar nicht herumkam: knappe Berichtsprosa, Montage von Sätzen – ein Kunstmittel, mit dem konkrete Einblicke in exemplarische Strukturen der DDR-Gesellschaft möglich wurden. Dem Thema »Literatur und Politik« ist Hans Joachim Schädlich treu geblieben, auch in seinen späteren, weit in die Geschichte ausgreifenden Werken. Er hat sich das nicht aussuchen können, aber es ist sein Lebensthema. Für uns Leser ist das, so makaber es klingen mag, ein großes Glück.
Hans Joachim Schädlich: Werke in zehn Bänden. Reinbek 2015: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Circa 2750 S.
Hans Joachim Schädlich: Narrenleben. Roman. Reinbek 2015: Rowohlt Verlag, Reinbek. 175 S.
Hans Joachim Schädlich: Catt. Ein Fragment, hrsg. und mit einem Nachwort von Krista Maria Schädlich. Berlin 2015: Verbrecher Verlag. 112 S.
Theo Buck: Hans Joachim Schädlich. Leben zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Köln/Weimar/Wien 2015: Böhlau Verlag. 279 S.
Ausgelöscht. Hans Joachim Schädlich erinnert an Felix und Felka
Die Politik wurde sein Lebensthema, und sie blieb es bis heute. Nun konfrontiert uns der bald dreiundachtzigjährige Hans Joachim Schädlich mit einem Schicksal aus der Nazizeit: der traurigen und beschämenden Exilgeschichte des bedeutenden, inzwischen mehrfach wiederentdeckten Malers Felix Nussbaum und seiner fünf Jahre älteren Lebensgefährtin, der polnisch-deutschen Malerin Felka Platek. Beide kamen 1944 in Auschwitz ums Leben.
Elf Jahre zuvor, im Mai 1933, genießt das Künstlerpaar seinen Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, bis sie ein tätlicher Angriff eines Kollegen daran erinnert, was die Stunde geschlagen hat. Zurück nach Deutschland können sie nicht mehr, und so ziehen Felix und Felka von einem Ort zum anderen – nach Alassio und in die Nähe von Rapallo an der Riviera, nach Ostende, wo der verehrte James Ensor malt, nach Brüssel-Molenbeek. »Ein Leben aus den Koffern«, sagt Felix.
Die Nachrichten aus dem Reich sind deprimierend. Nach Palästina wollen sie nicht, obwohl ihnen dringend geraten wird, dieses Europa zu verlassen. Man trifft hilfsbereite Nachbarn, ja – aber das Klima ist schon überall vergiftet, Emigranten gegenüber sind die Beamten äußerst misstrauisch.
Dann 1939. »Was ist mit meinen Eltern?«, fragt Felka. »Vom ersten Kriegstag an haben die Deutschen Warschau bombardiert. Die ganze Stadt brennt.« Felix, zunächst noch illegal im Mansardenversteck, wird verhaftet – ein feindlicher Ausländer in Belgien. Das Ende: SS-Sammellager Mechelen, Transport in den Osten.
Wie Hans Joachim Schädlich die Angst einfängt, das Nicht-Glauben-Wollen, die Erschütterung jeglichen Weltvertrauens – das ist nicht anders als meisterlich zu nennen. Er montiert genau so viel Zeitgeschichte in seinen Text, wie es zum Verständnis erforderlich ist. Mehr nicht. Es sind pointierte, knappe, in ihrer Lakonie bestürzende Momentbilder, die den Leser unmittelbar packen. Die Wirkung von Felix und Felka beschreibt schon Lessing: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.«
Hans Joachim Schädlich: Felix und Felka. Reinbek 2018: Rowohlt Verlag. 203 S.
Mahnung an alle. Verse von Reiner Kunze
Reiner Kunze, den großen Dichter vom Obernzeller Sonnenhang über der Donau, muss man niemandem vorstellen. Fünfundachtzig ist er in diesem Jahr geworden, und elf Jahre hat es gedauert, bis seinem wunderbaren Lyrikband lindennacht eine neue, schmale Gedichtsammlung gefolgt ist: die stunde mit dir selbst. Weil es darin kein einziges schwaches Gedicht gibt und eine Rezension nur zur Eloge werden könnte, greife ich höchst willkürlich nur eines heraus: Verlangt vom dichter nicht. Willkürlich? Na ja.
Ich stelle fest: In den Medien, die sich überhaupt noch mit Gedichten beschäftigen, nimmt die Tendenz zu, sich mehr den dichtenden Personen zuzuwenden als ihren lyrischen Werken. Klar, das gab es schon immer, und dagegen ist auch wenig zu sagen, solange – ja, solange die Poesie selbst dabei nicht ganz an den Rand gedrängt wird. Das aber, scheint mir, geschieht immer öfter. Ich lese die folgenden sechs Kunze-Zeilen auch als Mahnung. An alle, auch an die Dichter selbst. Vor allem aber an die Lesenden und die Schreibenden: »Verlangt vom dichter nicht, / was einzig das gedicht kann leisten / Verlangt vom dichter / das gedicht / Ist’s ohnegleichen / kann er das wasser ihm nicht reichen.«
Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte. Frankfurt am Main 2018: S. Fischer Verlag. 70 S.
Reiner Kunze: lindennacht. Gedichte. Frankfurt am Main 2007: S. Fischer Verlag. 111 S.
… herbstwärts das leben hinab. erdanziehung – Neue Gedichte von Wulf Kirsten
Kürzlich wurde Wulf Kirsten fünfundachtzig Jahre alt, und es gereicht der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung durchaus nicht zur Ehre, diesem eminenten Poeten den Büchner-Preis vorenthalten zu haben. Seit einem halben Jahrhundert schreibt er Gedichte, die sich in die europäische Tradition freirhythmischer Landschaftsdichtung einfügen lassen und dennoch, sozialethisch grundiert, nicht darin aufgehen. Der Echoraum von Brockes und Herder bis Bobrowski und Huchel bleibt auch in erdanziehung präsent, schiebt sich aber nirgends in den Vordergrund. Die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts, »als die produktion von volksfeinden auf vollen touren lief, ab in den gulag«, schimmert überall durch, und die Gegenwart, unterwegs nach Absurdistan, lässt sich nicht ignorieren. Noch einmal zeigt Kirsten, was er kann: Dichtung auf der Höhe der Zeit.
Zeitkritik gerinnt zum prägnanten Sprachbild: »dunkelmanngemunkel«