schieflage« ist zu beobachten, und Kultur »degeneriert zur sättigungsbeilage«. Auch scheint eine gewisse Seinsvergessenheit um sich zu greifen: »… es fragt sich nur, wer noch wollte / und sollte das überirdische hören, wo / alle ohren verstöpselt, alle blicke / weltab gerichtet auf smartphones, / die dazu verhelfen, nicht mehr gewahr / zu werden die sie umfangende welt.« Dass der lyrische Blick öfter auf die eigene, alles andere als idyllische Kindheit fällt, darf nicht verwundern: »… allen unrat, den der krieg hinterließ / an stahlhelmen, gasmasken, feldspaten / in die steinbrüche geschaufelt / straßenrandgräber, biographien ausgelöscht … wer war denn ich, / der dies erlebt haben soll? …«. Auch treffliche Gedenkblätter enthält dieser Band, Hommagen an Lyonel Feininger, Joseph von Eichendorff oder den Erfurter Lyriker Johann Jeremias Kummer. Gedichte zum Immer-Wieder-Lesen entstanden zwischen 2011 und 2018 – bukowinisch heißt eines von denen, die man gewiss nicht mehr vergisst.
Wulf Kirsten: erdanziehung. Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2019. 93 S.
Den Wendelstein fest im Blick. Gespräch über Rainer Malkowski
Rainer Malkowski, 1939 in Berlin geboren, zog sich im Alter von zweiunddreißig Jahren aus einem überaus erfolgreichen Berufsleben zurück und wurde ein von Kollegen, Kritikern und Lesern hochgeschätzter, mit bedeutenden Preisen geehrter Dichter. Seinem ersten Lyrikband Was für ein Morgen (1975) folgten acht weitere Gedichtbände sowie Kurzprosa, Essays, Aphorismen und Kinderbücher. Dazu kommt eine Vielzahl von Arbeiten für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk. Auch als Anthologist, Herausgeber und Interpret war Rainer Malkowski tätig. Bis zu seinem Tod im Jahr 2003 lebte er in Brannenburg am Inn.
Ludwig Steinherr, 1962 in München geboren und bis heute dort lebend, studierte Philosophie und promovierte über Hegel und Quine. Er ist Universitätsdozent und freier Schriftsteller. Steinherr hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht, die zum Teil auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschienen die Lyriksammlungen Flüstergalerie (2013) und Ganz Ohr (2012).
Herr Steinherr, wie gut kannten Sie Rainer Malkowski? Sie wurden ja erst kurz vor seinem Tod Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Haben Sie ihn früher schon persönlich getroffen?
Ich kannte Rainer Malkowski seit 1985. Wir sind uns bei den verschiedensten Gelegenheiten begegnet. Einmal haben meine Frau und ich das Ehepaar Malkowski in Brannenburg besucht. Wenn Rainer Malkowski nach München kam, rief er mich manchmal an und wir trafen uns auf einen Kaffee oder Wein.
Hatte Malkowski etwas von einem zuweilen melancholischen, dann aber auch sehr tatkräftigen Existenzialisten an sich? Immerhin lautet einer seiner Aphorismen: »Fürchten Sie nichts. Es ist alles viel schlimmer.«
Schwer zu sagen. Ich habe Malkowski eigentlich weder als erklärten Existenzialisten noch als besonders melancholisch erlebt. Er hatte immer wenig übrig für Illusionen – aber er mochte auch keine negativen Übertreibungen. Der zitierte Aphorismus ist sicher kein Lebensfazit.
Malkowski spricht einmal von der Gründung eines »Clubs der Ziellosen« und schreibt in diesem Zusammenhang: »Das Tagungsprotokoll wird in den Wind gesprochen und endet immer mit dem Satz: Es wurden keine Beschlüsse gefasst.« Gehört ein guter Lyriker grundsätzlich so einem »Club der Ziellosen« an? Oder kann er, ohne dass sein Werk darunter leidet, auch ganz konkrete Ziele verfolgen, politische womöglich?
Auch hier muss ich sagen, dass mir Rainer Malkowski selbst nie ziellos schien. Dinge, die ihm wichtig waren, verfolgte er sehr zielstrebig, sonst hätte er es weder in seinem früheren Brotberuf, in der Werbung, noch als Lyriker so weit gebracht. Zum Alltag des Dichters gehört natürlich eine gewisse Ziellosigkeit, die aber doch einem Ziel dient – wie etwa das Herumstreifen des Jägers.
Malkowskis Gedichte, die oft von ganz alltäglichen Erfahrungen sprechen, scheinen einfach zu sein. Lakonisch sind sie meist, sparsam und knapp. Man hat von einer »Ästhetik der Kürze, Einfachheit und Prägnanz« gesprochen. Ist seine Lyrik wirklich einfach?
Rainer Malkowski würde hier wohl ähnlich wie in seiner Dankesrede für den Joseph-Breitbach-Preis antworten: Auch das Meer ist einfach.
»Wahrnehmung als Ereignis«, das ist ein Stichwort für Malkowskis Werk. »Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, dass sie uns sehend machen«, sagt er. Sehen Sie das ähnlich?
Ich empfinde da wie Malkowski – ich erwarte vom Gedicht eine Eröffnung, eine Erkenntnis, die so unmittelbar ist wie das plötzliche Sehen. Die Metapher des Sehens lag bei Malkowski natürlich nahe, weil er sein Leben lang von Erblindung bedroht war – aber ich denke, er war auch so ein Augenmensch. Das bin ich ebenfalls.
»Jedes gute Gedicht zieht eine Summe, in der Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen sind. Es gibt die Zeit als Ganzes – als Erfahrung, als Phänomen.« Wie würden Sie dieses Malkowski-Diktum kommentieren, als Philosoph und als Lyriker?
Mir scheint, dass Malkowski da ganz recht hat. Er spricht da von einer Seite des Kunstwerks, die man auch als Ewigkeit bezeichnen könnte. Dieses Wort will er aber wohl vermeiden, weil es ihm zu bombastisch erscheint und weil es in der Tradition schon totgeritten worden ist.
Rainer Malkowski hat sich, wie Sie ja auch, über Jahrzehnte hinweg mit der bildenden Kunst auseinandergesetzt. Merkt man das seinen Gedichten und Prosastücken an?
Ja, er wäre immer gern Bildhauer gewesen. Über die Gründe habe ich vorhin schon gesprochen. Natürlich merkt man es dem Werk eines Dichters an, wenn ihn Gemälde und Skulpturen faszinieren. Wie gesagt: Das geht mir genau so.
Malkowski hatte hohe, ja höchste Ansprüche an die Kunst. Einer seiner Aphorismen lautet: »Auch unsere Fiktionen sind Fakten – wahrscheinlich sogar die entscheidenden.« Ist das so, oder überschätzt hier ein Künstler die Kunst?
Zunächst – wenn man als Künstler nicht höchste Ansprüche an die Kunst hat, dann braucht man damit gar nicht anzufangen. Natürlich sind Fiktionen Fakten – das gilt sogar außerhalb der Kunst. Staat, Rechtssystem, Geschichte, Wissenschaft – all das sind Fiktionen. Religion ist eine Fiktion. Liebe ist eine Fiktion. Sie existieren nicht materiell, sondern in Gedanken. Dennoch können sie die entscheidende Realität darstellen. Wobei ja auch der Begriff der Materie eine Fiktion ist. Da muss man nicht erst Heisenberg bemühen.
Der gebürtige Preuße Malkowski hat die zweite Hälfte seines Lebens in Brannenburg am Inn gewohnt. Hatte er ein besonderes Verhältnis zu Bayern und zu Bayerischem?
Das weiß ich leider nicht, darüber haben wir nie gesprochen. Von einem großen Fenster seines Hauses aus sieht man direkt auf den Wendelstein. Also muss ihm die bayerische Landschaft doch viel bedeutet haben.
Ist Rainer Malkowskis Nachlass erschlossen, und dürfen wir Leser auf weitere Bücher von ihm hoffen? Oder wenigstens auf eines?
Auch da tappe ich leider im Dunkeln. Unbekannte Gedichte sind wohl nicht mehr zu erwarten. Aber sonst? Hoffen wir, dass es noch Überraschungen gibt.
Rainer Malkowski: Die Gedichte. Mit einem Nachwort von Nico Bleutge. Göttingen 2009: Wallstein Verlag. 763 S. Dieses Buch versammelt die Gedichte aus den einzeln im Suhrkamp Verlag erhältlichen Bänden Was für ein Morgen (1975), Einladung ins Freie (1977), Vom Rätsel ein Stück (1980), Zu Gast (1983), Was auch immer geschieht (1986), Das Meer steht auf (1989), Ein Tag für Impressionisten und andere Gedichte (1994) und Hunger und Durst (1997) sowie aus dem beim Hanser Verlag erhältlichen Band Die Herkunft der Uhr (2004).
Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine Prosa. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger. Göttingen 2013: Wallstein Verlag. 135 S. Dieses Buch enthält die zum Teil im Interview zitierten Aphorismen sowie die »Hinterkopfgeschichten«, die im Jahr 2000 unter dem Titel Im