Niemand würde ihre Schreie hören und bis man ihren leblosen Körper fände, würden Wochen oder sogar Monate vergehen.
Celina erstarrte und zu ihrem Ärger reagierten ihre Glieder nicht. Dennoch war sie entschlossen zu kämpfen, obwohl der Gegner ihr zweifelsohne überlegen wäre.
»Guten Abend, mein Kind.« Die sanfte Stimme ließ Celinas Furcht abrupt in Verwirrung umschlagen. Sie hob den Kopf.
Keinen Meter von ihr entfernt stand eine junge Frau mit schulterlangen, blauschwarzen Haaren. Sie reflektierten das weiße Licht wie einen Heiligenschein. Trotzdem reichte es nicht aus, um ihre Gesichtszüge zu erkennen. Dafür bemerkte Celina sofort die vornehme, ausladende Kleidung, bestehend aus einer Turnüre sowie einer schweren Samtjacke, und die schmale Silhouette. Kein Zweifel, es war eine Frau aus altem Adel. Unbeholfen erhob Celina sich.
»Guten Abend.« Sie versuchte einen Knicks, welcher jedoch aufgrund ihrer steifen Beine misslang.
Die Unbekannte machte einen letzten Schritt auf sie zu und legte ihre Hand auf Celinas Schulter. »Was tust du hier mitten in der Nacht allein im Wald?«
Die Angesprochene seufzte erleichtert, offensichtlich nahm sie ihr ihre Ungeschicklichkeit nicht übel. Dennoch hatte Celina Bedenken. Sollte sie sich wirklich einer Fremden anvertrauen? Dies könnte sich – möglicherweise fehlinterpretiert – wie ein Lauffeuer verbreiten. Außerdem erhöhte es das Risiko ihrer Auffindung.
Celina schluckte und versuchte vergeblich, der Fremden in die Augen zu schauen. Obwohl sie direkt vor ihr stand, verhüllte jedoch ein Halbschleier den oberen Teil ihres Gesichtes. Dafür erkannte Celina ihre weichen Züge, aus denen Güte, aber auch Traurigkeit sprach. Unwillkürlich fragte sie sich, was der Grund dafür sein könnte. Hatte diese besondere Frau ähnliche Erfahrungen gemacht wie sie? Celina holte tief Luft, wollte etwas sagen, doch ihre Lippen waren staubtrocken. Es dauerte eine Weile, bis ein Räuspern ihren Mund verließ und sie sich der Fremden offenbarte.
Celina nannte ihren Namen und erzählte ohne Punkt und Komma von den massiven Problemen in ihrer Familie, dem verzweifelten Entschluss, entgegen ihrer ursprünglichen Planung doch zu heiraten, sowie von Rudolfs schmierigen Annäherungsversuchen, die sie schließlich zur übereilten Flucht gezwungen hatten. Nur den geheimnisvollen Fremden verschwieg Celina, ohne zu wissen, warum.
Als sie geendet hatte, ballten die Hände ihres Gegenübers sich zu Fäusten. »Männer sind oft Schweine und denken mit der Körpermitte anstatt mit ihrem Hirn.« Jede Ruhe war aus ihrem Tonfall verschwunden. »Doch zum Glück gibt es Ausnahmen.«
Wieder fragte Celina sich, ob sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, schaffte es jedoch nicht, danach zu fragen – auch weil die Fremde sie plötzlich in eine Umarmung zog. Celina spürte die Wärme ihres großen, aber festen Busens an ihrem und ließ ihre Finger unwillkürlich durch die seidenweichen Haare gleiten. Außerdem schlug ihr Herz ein paar Takte schneller, diesmal jedoch auf angenehme Weise.
»Wer seid Ihr?«, erkundigte Celina sich und erschrak, wie schwer ihre Stimme klang. Fast, als wäre sie in einer Art Trance.
Etwas plötzlich löste die Fremde ihre Umarmung und musterte sie mit festem Blick. »Ich heiße Sophia.« Ihr Blick wurde noch eindringlicher. »Aber dir bin ich wohl eher unter dem Namen Dunkelgräfin bekannt.«
Ein eisiger Schauer überkam Celina und sie wich reflexartig zurück. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Es lebten tatsächlich eine Dunkelgräfin und – daran hatte Celina keinen Zweifel – ein Dunkelgraf in dem alten Schloss. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wie viel von den Aussagen über schwarze Magie und eine unkonventionelle Lebensweise trafen zu? Was würde Sophia jetzt mit ihr tun? Und vor allem, was sollte sie jetzt machen?
Wieder durchzuckte der Geistesblitz Flucht ihre Überlegungen, doch Celina schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Zum einen wäre sie noch immer mitten in der Nacht allein im Wald, zum anderen machte die Gräfin den Eindruck, als würde sie diese Gegend gut kennen.
Die Besagte schaute sie durchdringend an. »Ich weiß, was du denkst, Celina.« Sophia umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. »Selbst eine intelligente Frau wie du ist nicht gegen Gerüchte immun. Doch ich kann dir versichern, dass weder mein Gefährte noch ich schwarze Magie betreiben. Ich habe lediglich dein Weinen gehört und wollte dir eine Unterkunft anbieten. Der Wald ist zum Übernachten nicht geeignet und dazu gefährlich.«
Celina nickte. Sie schämte sich, den Gerüchten anstelle ihrer eigenen Vernunft geglaubt zu haben. Zumal Sophia recht hatte: Selbst ein von Sünde durchtriebenes Lustschloss war besser, als die Nacht hier draußen zu verbringen. Obwohl ein Teil ihres Verstandes hartnäckig protestierte, ergriff sie die angebotene Hand und ließ sich von Sophia führen.
Je näher sie dem Schloss kamen, desto schneller pochte Celinas Herz. Schon seit sie denken konnte, hatte es für die Entstehung von Geschichten gesorgt. Über seinen wahren Ursprung gab es nur wenige Aufzeichnungen, die letzte schriftliche Erwähnung stammte aus dem Jahre 1780 und ähnelte eher einer Randnotiz. Von diesem Zeitpunkt an hatte es, so glaubten die Menschen, leer gestanden, was sich nunmehr als Irrtum herausstellte.
Ein Wunder, dass es die Ausläufer der Französischen Revolution überstanden hat, überlegte Celina, während sie die äußere Fassade betrachtete.
Diese war säuberlich verputzt und anthrazitfarben bemalt, jedoch von den Spuren der Natur gezeichnet. Selbst im Dunkel konnte Celina die schwarzen, zum Teil sehr üppigen Efeupflanzen deutlich erkennen. Wie eine schützende, tiefgrüne Mauer schlängelten sie sich um die zahlreichen Fenster.
Wozu werden diese Räume wohl genutzt?, fragte sie sich und eine Gänsehaut überzog ihren Körper.
Führten Sophia und ihr Gefährte tatsächlich ein Leben jenseits der Konventionen? Und wenn ja, wie genau sah dieses aus? War ihre Aussage bezüglich der schwarzen Magie nur ein Lippenbekenntnis gewesen? Alle erdenklichen Vorstellungen von schmutzigen Geschäften über okkulte Praktiken bis hin zu Menschenhandel schossen Celina blitzartig durch den Kopf und ließen sie für einen kurzen Moment innehalten. War alles doch ein verhängnisvoller Fehler?
Sophia bemerkte Celinas Zögern und umschloss ihre Hand fester, während sie mit der anderen eine Fackel von der Wand nahm. »Hab keine Angst.«
Celina versuchte sich zu beruhigen und sah, wie ihre Begleitung die Eingangstür mit einem festen Stoß öffnete.
Überrascht betrat Celina die Eingangshalle. Bis auf einige Öllichter gab es keine Beleuchtung, trotzdem reichte es aus, um die vier hohen Treppen aus Ebenholz mit aufwendigen Schnitzereien zu erkennen. An den Wänden im Obergeschoss hingen zahlreiche Gemälde vornehmer Männer und Frauen, möglicherweise eine Ahnengalerie.
Celina räusperte sich. Respekt, dass die beiden sich trauen, die Bilder aufzubewahren. Heutzutage war es beinahe eine gesellschaftliche Pflicht, sich von derartigen ungeliebten Stücken zu trennen und sie am besten vor aller Augen dem Feuer zu übergeben. Niemand, der etwas auf sich hielt, wollte noch mit dem einstigen Adel in Verbindung gebracht werden. Im Gegenteil, die meisten verleugneten ihre Herkunft so gut wie möglich.
»Vergangenheit soll man ruhen lassen, sie jedoch nie gänzlich aus dem Blickfeld verlieren«, sprach die Gräfin, während sie Celina eine der Treppen hinaufführte.
Diese erschrak. Hatte Sophia ihre Gedanken gelesen? Gewundert hätte es sie nicht. Aber es blieb keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn nur wenige Sekunden später öffnete die Gräfin eine weitere Tür und trat ein.
Als Celina sah, was sich dort abspielte, gefror das Blut in ihren Adern und sie blieb erstarrt stehen. Auf einem großzügigen, aber augenscheinlich unbequemen Sofa lag eine schlanke, unbekleidete Frau. Ihre wallenden, goldblonden Haare bedeckten fast die ganze Sitzfläche, konnten jedoch nicht über den aus Celinas Sicht verstörenden Anblick ihrer gefesselten Hand- und Fußgelenke hinwegtäuschen. Diese waren ohne Abstand zusammengebunden und Erstere außerdem über ihrem Kopf fixiert. Doch entgegen Celinas Erwartung sträubte die junge Frau sich nicht, sondern schloss genießerisch die Augen. Ein Mann, dessen Alter schwer einzuschätzen war, stand gebeugt über ihr. Seinen Kopf zierte deutlich eine Halbglatze, andererseits schien