Aber Caroline hatte darauf bestanden, weil es ihrer Meinung nach Celinas jugendliche Unschuld hervorhob.
Wenn sie wüsste, dachte Celina mit einem Hauch Bitterkeit.
Körperlich gesehen mochte es der Wahrheit entsprechen, doch in ihrem Geist zeigte sich das umgekehrte Bild. In einer Mischung aus Verachtung und Trauer erinnerte Celina sich an das gemeinsame Frühstück am Morgen.
Nach dem ernüchternden Gespräch mit Anne waren sie zum Haus zurückgekehrt und hatten eine aufgelöste Caroline vorgefunden. Zwar war es ihr mithilfe von Annes Mutter gelungen, den wütenden, angetrunkenen Alvin zu beruhigen und ins Bett zu schaffen, doch währenddessen waren einige Beschimpfungen gefallen, die niemand der Anwesenden erneut auszusprechen wagte. Dergleichen war auch unnötig, denn die tränenfeuchten, schamhaft geröteten Wangen von Celinas Mutter sagten genug.
Es folgte ein endloser Schwall an Entschuldigungen und Rechtfertigungen, in deren Verlauf sie Caroline mehrfach stützen musste. In Celinas Augen war es überflüssig, denn nicht ihre Mutter oder sie hatten einen Fehler begangen, sondern Alvin. Ganz allein er hätte sich für dieses ungebührliche Verhalten entschuldigen müssen. Zwar hatten die Steins versprochen, trotz des Ereignisses in freundschaftlichem Kontakt zu bleiben, doch die ungewöhnlich kühle Verabschiedung sagte etwas anderes. Eine jahrzehntelange Freundschaft war auf tragische Art und Weise zerstört.
Zu Celinas eigener Überraschung betrübte sie das jedoch weniger, als sie selbst angenommen hätte. Schließlich hatten Anne und sie sich im zarten Alter von vier Jahren auf einer Spielwiese kennengelernt, woraus eine tiefe Freundschaft entstanden war. Zusammen hatten sie gelacht, geweint, waren gelobt und bestraft worden. Selbst die stürmischen Tage der Jugendzeit, in denen Seele und Denkstrukturen sich verändern, hatte ihre Zuneigung schadlos überstanden.
Aber jetzt kam es Celina vor, als wäre ihre einst so vertraute Kameradin innerhalb weniger Sekunden zu einer Fremden geworden. Sie hatte Anne nicht wiedererkannt. Dass ihre Freundin ihre zum Teil rebellische Ansicht nicht teilte, hatte Celina sich gedacht. Schon immer war Anne die Stille und Gehorsame gewesen, während sie selbst sich durch einen leicht aufmüpfigen Charakter auszeichnete. Dies hatte in der Vergangenheit manchmal zu kleinen Reibereien geführt, aber niemals eine Entfremdung verursacht.
Bis jetzt. Nachdem Anne ihr in den Rücken gefallen war und sie entrüstet gemaßregelt hatte, hatte Celina das Gefühl, einen anderen Menschen vor sich zu haben. Von der Schockiertheit und Annes Aufforderung, demütig vor Gott zu kriechen, ganz zu schweigen. Jener Ratschlag war nicht nur sinnlos, sondern bei näherer Betrachtung auch völlig absurd. Entgegen den Konventionen hatte sie keinen großen Bezug zum Glauben, beschränkte ihre Aktivitäten diesbezüglich auf den wöchentlichen Kirchgang am Sonntag. Und Anne wusste das.
Verbissen kämpfte Celina das Gefühl von Einsamkeit nieder und richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die anderen Gäste des Balls. Dieser war weniger stark besucht als der letzte, was Celina mit Erleichterung erfüllte. Zwar hatte sie trotzdem eine volle Tanzkarte, jedoch berührten die gierigen Blicke sie viel weniger als am Abend zuvor.
Einen Wimpernschlag lang meinte sie sogar, ihren unbekannten Beobachter in der Menge zu spüren. War er auch hier? Der Gedanke selbst dauerte nur kurz, trotzdem reichte es, ihr einen Schauer über den Körper zu jagen. Gleich darauf spürte sie eine starke Hitze, selbst das dünne Seidenkleid schien an ihrem Körper zu kleben. Schweißperlen rannen ihr über Stirn und Schläfen, verfingen sich in einzelnen Strähnen, die aus ihrer Frisur geschlüpft waren.
Um ihre Erregung zu überspielen, nahm Celina eine bequeme Sitzposition ein, wobei ihre roten Wangen mit Sicherheit nicht unbemerkt blieben.
»Verdammt.« Celinas Hände zitterten wie Espenlaub und sie drückte ihren Rücken gegen die Lehne. Das verhinderte zwar ein nervöses Hin- und Herrutschen, konnte ihre Fantasien jedoch nicht aufhalten. Celina schloss die Augen. Innerhalb weniger Minuten war sie der Welt entrückt.
»Was passiert hier?«, fragte sie sich nach einer Weile und hatte Mühe, klar zu sehen.
Ihre Augenlider waren schwer wie Blei und Celina fühlte sich, als wäre sie gerade aus einer tiefen Ohnmacht erwacht. Außerdem klebte der Seidenstoff wie eine zweite Haut an ihrem Körper und zeichnete ihre weiblichen Formen deutlich nach.
»Ich wünschte, ich könnte es einfach ausziehen«, fauchte Celina verärgert, ohne sich bewusst zu sein, was sie aussprach. Das Korsett drückte gnadenlos in ihre Seiten.
»Warum tust du es nicht?« Die plötzlichen Worte ließen sie zusammenzucken. Doch anstatt aufzuspringen, starrte Celina wie hypnotisiert auf die geisterhaften Schemen, die sich unruhig und nur wenige Meter von ihr entfernt bewegten. Nach und nach löste sich eine schwarz gekleidete Gestalt aus ihnen. Obwohl Celina weder seine Augen noch sein Gesicht vollständig erkennen konnte, verzogen sich ihre Lippen zu einem strahlenden Lächeln. Der Mann war ohne Zweifel ihr fremder Beobachter. Woher Celina diese Erkenntnis nahm, wusste sie nicht.
Ihr Herz klopfte so schnell, dass es ihr aus der Brust zu springen drohte. Gespannt verfolgte sie jeden Schritt, den er näherkam. Ihre Brustwarzen richteten sich erwartungsvoll auf, stießen gegen das massive Korsett ihres Kleides. Celina war sicher, dass er es sehen konnte, doch ihre innere Gleichgültigkeit erstickte alle Scham. Jeder Anstand, jede Schicklichkeit verloren ihre Bedeutung.
»Guten Abend, Celina.« Die Angesprochene war überrascht, dass er ihren Namen kannte und sie außerdem sofort duzte.
Aber selbst diese seltsame Tatsache ignorierte sie arglos und konzentrierte sich stattdessen auf seine blauschwarzen Haare, die wie ein Umhang über die breiten Schultern fielen. Wie mochten sie sich zwischen ihren Fingern anfühlen? Celinas Augen glänzten vor unterdrücktem Verlangen. Obwohl sie mit derartigen Dingen bisher nur theoretische Erfahrungen hatte, siegten Hunger und Neugierde über jedes andere Gefühl. Ihr Gegenüber schien es zu spüren. Er grinste amüsiert und entblößte dabei zwei Reihen weißer Zähne.
»Hast du es so eilig, meine Schöne?« Seine Hand legte sich auf ihre Stirn und glitt langsam, aber sicher ihre Wange und den Hals hinab.
Ohne Zögern streckte Celina sich ihm entgegen, sie lechzte nach jeder winzigen Berührung. Doch er ließ sich Zeit und presste seine Lippen auf ihre. Celina keuchte, auch weil er sie mit einem wilden Zungenspiel überfiel. Doch anstatt sich zu wehren, krallte sie sich in seine Schultern und versuchte, das Spiel so gut wie möglich zu erwidern.
Erst nach einigen Minuten lösten sie sich wieder voneinander und Celina rang nach Atem. Sie versuchte, in das Gesicht des Fremden zu schauen. Welche Farbe mochten seine Augen haben? Bestimmt dunkel, geheimnisvoll. Wie würden diese sie anblicken? Wie ein Objekt der Begierde, mit dem man ein paar schöne Stunden verbringen wollte? Oder wie ein billiges Stück Fleisch, welches man danach wegwarf? Die Aussicht auf Letzteres ließ Celina erneut die Hand zur Faust ballen. Es ärgerte sie, nicht zu wissen, was der Fremde beabsichtigte, und noch mehr, dass ihr ein Blick in seine Augen versagt blieb. Denn diese waren das Fenster zur Seele.
Ein unwilliges Murren entwich ihrem Mund und der Unbekannte grinste erneut.
»Keine Angst, meine Schöne. Alles wird zur rechten Zeit ans Licht kommen.«
Celina presste die Lippen aufeinander und schwieg. Obwohl seine Stimme ihr einen Gänsehautschauer über den Rücken jagte, trösteten die Worte sie nur begrenzt. Seit den Vorfällen in ihrer Familie hatte Celina schmerzhaft gelernt, dass Worte häufig über die Realität hinwegtäuschten. Die Begründungen und Versprechungen ihres Vaters erwiesen sich als Schall und Rauch. Sie unterdrückte die Traurigkeit und blickte ihr Gegenüber stattdessen fragend an. Ihr innerer Aufruhr war ihm nicht verborgen geblieben.
»Fürchte dich nicht.« Celina erschrak, als sie seine kräftigen Finger an ihrem Hals spürte. Würde er etwa …?
»Ich will dich nicht schänden.«
Ist das gleichbedeutend mit ›Ich will dir nicht wehtun‹? Noch während ihr diese Überlegung durch den Kopf schoss, spürte sie, wie die Luft erneut knapp wurde.
Ihre Augen weiteten sich. Der Fremde würgte sie! Im Bruchteil von Sekunden überzog ein hauchdünner Schweißfilm Celinas Arme