es ist irgendein altes Tier, das da liegt, ein Bär, irgendwas.« Er zuckte verächtlich mit den Schultern. »Und dann kam Herr Beckershoff und hat den Schädel gesehen und dann hat er uns gesagt, dass die Knochen aufbewahrt werden sollen. Für den Lehrer.« Er starrte auf die Spitzen seiner lehmverklumpten Stiefel, vielleicht dachte er, um wie viel einfacher alles wäre, wenn Beckershoff nicht ausgerechnet in jenem Moment zu ihnen gestoßen wäre. Wenn die Knochen jetzt mit dem Lehm in irgendeiner Grube lägen, aufs Neue begraben.
»Und Sie haben alle Fragmente aus dem Lehm entfernt?«, fragte Minter. »Alle Knochenteile, da sind Sie sich sicher?«
Die drei Männer nickten im Gleichtakt auf und ab, als hätten sie die Bewegung vorher zusammen einstudiert. »Tutti quanti«, sagte der Italiener, den sie am Eingang gesehen hatten, es war das erste Mal, dass er sich zu Wort meldete.
»Alles«, übersetzte sein Kollege. Dann sahen sie auf die Uhr über der Tür und Minter seufzte wieder.
»Wo genau wurde der Aushub hingebracht?«, fragte er.
»Das wissen wir nicht mehr«, erklärte der Älteste. »Ein Teil hierhin, ein anderer dorthin.«
»Gut«, sagte Minter, aber sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. »Ich denke, wir sind dann fertig.«
Die drei Männer bewegten sich sofort in Richtung Tür, ihre Gesichter waren dabei vollkommen ausdruckslos und Rosalie fragte sich, wie alt sie wohl sein mochten, bestimmt um einiges jünger, als sie wirkten. Die Arbeit im Steinbruch war Knochenarbeit und auch wenn Herr Beckershoff vorher von der Verantwortung für seine Arbeiter gesprochen hatte, bezweifelte sie, dass er sie übermäßig schonte. Wenn einer nicht mehr konnte, dann übernahm eben ein anderer, ein Jüngerer, seine Arbeit. Die Industrie schreitet mit wackeren Schritten voran, dachte sie. Auch über Leichen. Und dieser Gedanke brachte sie plötzlich auf eine Idee.
»Halt!«, rief sie. Die Männer waren schon fast durch die Tür, mitten in der Bewegung hielten sie inne und drehten sich um. »Nur eine Frage noch, bitte, wenn Sie entschuldigen«, sagte Rosalie.
»Aber sicher«, meinte Minter statt der Männer. »Natürlich.«
»Die Gebeine«, sagte Rosalie. »Lagen sie über den ganzen Höhlenboden verstreut oder waren sie wie ein Skelett angeordnet, der Schädel zuoberst und so fort?«
Die Männer sahen Beckershoff an, sie schienen nicht sicher zu sein, ob sie auf Rosalies Frage antworten sollten. »Na los doch, wird´s bald.« Der Steinbruchbesitzer schnalzte mit der Zunge, als seien die drei Ackergäule, die er antreiben musste.
»Wie ein Skelett«, sagte der Vollbart daraufhin. »Oben der Kopf und dann der Rest.«
»Dann müssen in dem Aushub noch mehr Fragmente sein«, rief Minter. »Sie haben nur einen Teil geborgen, nur einen winzigen Teil des Ganzen.«
Die großen, schmutzigen Schuhe der Männer machten schlurfende Geräusche auf dem Holzboden. Minter sah Rosalie an, sie zuckte mit den Schultern.
»Vielen Dank«, sagte Minter.
Sie hatten die Feldhofer Grotte besichtigt, zumindest den kleinen, hinteren Teil, der noch übrig war, und die Arbeiter hatten ihnen gezeigt, wie das Skelett ihrer Erinnerung nach gelegen hatte, auf dem Rücken, den Kopf zum Höhlenausgang.
Dann hatten sie sich umgesehen, ein wenig ratlos. »Ich bin weder Archäologe noch Geologe«, sagte Minter achselzuckend. »Ich habe keine Ahnung, worauf ich achten sollte.«
Unten im Steinbruch verabschiedete sich Beckershoff von ihnen und weil es noch früh war, beschlossen sie, zu Fuß zum Bahnhof zurückzugehen. »Vielleicht gibt es einen Wanderpfad, der idyllischer ist als die Straße«, meinte Minter.
Sie steuerten einen der kleinen Bauernhöfe an, an dem sie mit der Droschke vorbeigekommen waren. Die Bauersfrau beschrieb ihnen den Weg erst umständlich und fuchtelte dabei mit den Händen in der Luft herum, in die eine Richtung und dann in die andere, aber am Ende holte sie ihren Sohn. »Zeig den Herrschaften aus der Stadt den Fußweg nach Hochdahl, Johannes.«
Der Junge war neun oder zehn und schien wenig begeistert, aber als Minter ein paar Groschen aus der Tasche holte und damit herumklimperte, nickte er begeistert und rannte dann so schnell los, dass sie Mühe hatten, ihm zu folgen. Von der Straße aus bog er in einen schmalen Trampelpfad in den Wald ein, der zuerst eben verlief und dann steil nach oben. Johannes kletterte wie ein Wiesel voran, Minter folgte ihm mit erstaunlicher Behändigkeit und Rosalie verwünschte ihren weiten, langen Rock, mit dem sie ständig an niedrigen Ästen, Dornen und Gestrüpp hängen blieb. Immer wütender riss sie sich los, mit einer solchen Wucht, dass sie ein paar Male fast gefallen wäre. Ihre Hände krallten sich in den Waldboden, an moosige Baumstämme, um feuchte Steine. Minter und der Junge entfernten sich immer weiter von ihr, bis Minter es endlich bemerkte, hatten sie das Ende des Abhangs fast erreicht. Auf den letzten Metern streckte er ihr seine Hand entgegen und wirkte schuldbewusst, als sie sie ignorierte. Der Junge erwartete sie oben, er trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen und grinste, als sie ihn endlich erreicht hatten.
»Ich kann Ihnen auch noch etwas anderes zeigen«, sagte er, dabei starrte er auf die Tasche, aus der Minter die Groschen geholt hatte.
»Was soll das sein?«, fragte Minter. »Ein toter Fuchs? Oder ein hohler Baum?«
»Eine richtige Höhle.«
»Eine Höhle? Drüben beim Steinbruch?«
»Nein, hier, gleich in der Nähe«, sagte Johannes, aber mehr sagte er nicht. Erst als Minter in seine Tasche griff und ihm einen Groschen reichte, fuhr er fort. »Es ist ein beschwerlicher Weg und wenn das Frauenzimmer möchte, kann es ja hier auf uns warten.«
»Das Frauenzimmer kommt mit«, meinte Rosalie finster. »Also, wo ist diese Höhle?«
Sie rutschten die Hälfte des Abhangs, den sie so mühsam erklommen hatten, wieder hinunter. Diesmal hielt Minter sich hinter Rosalie, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, wenn er vor ihr gegangen wäre, damit er sie auffangen konnte, wenn sie ausrutschte. Irgendwann blieb der Junge auf einer Art natürlichen Terrasse stehen.
»Hier«, sagte er und deutete mit dem Kopf nach unten und erst jetzt sahen sie den Spalt in der Erde, er war von Efeu überwuchert, aber breit genug für einen erwachsenen Menschen, wenn er nicht zu kräftig gebaut war.
»Das soll eine Höhle sein?«, fragte Minter. »Das sieht eher aus wie ein Tierbau.«
»Sicher ist das eine Höhle«, sagte Johannes und dann tat er einen großen Schritt nach vorn und war plötzlich verschwunden, es war, als hätte ihn die schwarze Tiefe aufgesaugt.
»Johannes!«, schrie Rosalie erschrocken.
»Hier.« Seine Stimme kam ganz aus der Nähe. Sie beugte sich über den Spalt und sah ihn ein paar Fuß unter sich kauern. »Man kommt ganz tief hinein«, meinte er. »Am Anfang ist es eng und ungemütlich, aber dann kann man sogar herumgehen.«
»Das muss ich mir anschauen«, murmelte Minter.
Er verschwand mit den Füßen voran im Erdreich, es war wie eine umgekehrte Geburt. Als Rosalie seinen Kopf nicht mehr sehen konnte, beschloss sie, ihm zu folgen. Sie setzte den Gedanken sofort in die Tat um, weil sie wusste, dass sie ihre Meinung ändern würde, wenn sie länger darüber nachdachte.
Wie die beiden anderen sprang sie in die Tiefe und schob sich dann weiter Richtung Dunkelheit. Zuerst die Füße, dann die Waden, die Schenkel. Ihr Rock stülpte sich dabei nach oben, sie konnte es gar nicht verhindern. Es ist verrückt, was wir hier tun, dachte sie. Wenn Vater mich hier sehen könnte oder Dorothea, wenn uns hier etwas passiert, wird uns niemand finden, keiner wird wissen, wo wir sind. Dann verschwand ihr Kopf in der schwarzen Enge und nur wenn sie ihr Gesicht nach oben drehte, sah sie einen leuchtend blauen Ausschnitt, der kleiner wurde mit jedem Fuß, den sie tiefer sank, und je kleiner der Himmelsausschnitt wurde, desto mächtiger wurde ihre Angst.
Ich sterbe, dachte sie. Sie schloss die Augen, damit sie die Dunkelheit nicht mehr sah. Dann ging es plötzlich nicht mehr weiter, ihr Becken steckte fest, weil sich ihr Rock in einem dicken