hin und gab keinen Ton von sich. Heute war wohl einer ihrer ruhigen Tage.
»Hab ihr was zubereitet, aber sie will ja partout nichts zu sich nehmen«, murrte Walpurga.
Dorothea seufzte und nickte. »Du kannst nun gehen, Walpurga. Wenn du nur um Viertel nach eins wieder hier bist.«
Walpurga starrte sie an und zupfte an den breiten Bändern ihrer Schürze, als habe sie sie nicht verstanden.
»Gibt es noch etwas?«, fragte Dorothea.
Walpurgas Augen wurden ganz schmal, sie öffnete den Mund, aber dann schloss sie ihn wieder.
»Walpurga«, sagte Dorothea, »wenn etwas nicht beim Rechten ist, dann sprich nur frei heraus. Und wenn du die Arbeit mit Tantchen nicht mehr machen willst, weil sie dir zu beschwerlich ist, so muss ich eben eine andere finden, die es übernimmt.«
Sie hatte in einem leisen, sanften Ton gesprochen, aber Walpurga hatte verstanden. »Dann komme ich also kurz nach eins wieder.«
Dorothea holte einen Apfel aus der Küche, dann schob sie einen Stuhl ans Fenster, so dass sie Tante Lioba gegenüber saß, und begann, das Obst zu schälen. Sie schnitt den Apfel danach in feine Streifen und reichte diese der Alten, die einen nach dem anderen zwischen ihren fast zahnlosen Kiefern zerdrückte.
Dorothea dachte an früher, als Tante Lioba noch nicht verrückt gewesen war. Damals hatte sie ihr alles erzählen können, ihre Freude und ihren Kummer und ihre Geheimnisse. Tante Lioba hatte sie verstanden. Sie hatte nie viel gesagt zu dem, was Dorothea ihr erzählte, zwei, drei belanglose Sätze oder manchmal auch gar nichts, dann hatte sie ihr übers Haar gestrichen oder ihre Hand festgehalten und mit ihren rauen Fingern ihre weiche Haut gestreichelt, wieder und wieder. Und diese wenigen Worte, diese spärlichen Gesten fehlten ihr jetzt so, dass sich ihre Brust zusammenzog, wenn sie daran dachte.
»Du hast den Verstand verloren«, sagte sie leise, während sie auf die knotigen Finger der alten Frau blickte, die sich in ihrem Schoß ineinander krampften. »Und ich den Halt.«
Dann musste sie lachen, weil es sich so dumm anhörte. Tante Lioba hob den Kopf und lachte ebenfalls, sie lachte ihr fröhliches, tiefes Lachen, das überhaupt nicht verrückt klang, sondern ganz normal, so wie früher. Daraufhin hörte Dorothea auf zu lachen und fing an zu weinen. Sie dachte an ihre Eltern, die sie belog, an Rosalie, die die Schöpfungsgeschichte leugnete, und an Kirschbaums traurige Augen. Sie weinte eine ganze Weile lang und Tante Lioba hörte ihr aufmerksam dabei zu, ganz so, als erinnerte sie Dorotheas Weinen an etwas, das weit zurücklag und das sie sich wieder ins Gedächtnis rufen wollte. Und während Dorothea weinte, schälte sie die Äpfel und reichte die Schnitze ihrer Tante, die sie zwischen ihre fast zahnlosen Kiefer schob und zermalmte. Aber irgendwann hörte Lioba auf zu essen und beugte sich nach vorn und ergriff Dorotheas Hand, die Hand, die das Apfelmesser festhielt. Dorothea ließ das Messer los und Tante Lioba zog ihre Hand in ihren Schoß und streichelte sie, ein wenig unsicher, aber sonst ganz wie früher.
»Tante Lioba«, schluchzte Dorothea. »Vergib mir, dass ich dich so benutze, aber ich will nun einmal bei Kirschbaum arbeiten und weiß mir sonst keinen anderen Rat. Und vergib mir, dass ich dich nicht mit zur Bibelandacht nehme.«
Tante Lioba hielt Dorotheas Hand in ihrem Schoß fest und streichelte sie mit Daumen und Zeigefinger, während sich ihr Blick wieder nach draußen auf die Straße richtete, und Dorothea fragte sich, ob sie etwas von dem verstanden hatte, was sie gesagt hatte, oder kein Wort davon oder alles.
Seit sie ihr Doppelleben begonnen hatte, traf sie sich morgens nicht mehr mit Rosalie an der Pumpe am Königsplatz, das Wasserholen erledigte jetzt Tobias vor der Schule. Aber heute war Tobias krank und deshalb hastete Dorothea vor der Arbeit mit den Eimern los. Sie war früher unterwegs als sonst, auf dem Platz begannen die Marktfrauen gerade ihre Waren auszubreiten, spannten Schirme auf und wuchteten Holzfässer und Kisten darunter und stapelten Obst, Gemüse und Kartoffeln zu spitzen Pyramiden. Während Dorothea ihre vollen Gefäße im Ziehwagen verstaute, hielt sie nach Rosalie Ausschau, und gerade als sie gehen wollte, bog ihre Freundin um die Ecke.
»Hast du deine Arbeit aufgegeben?«, fragte Rosalie sofort, als sie Dorothea sah.
Dorothea schüttelte den Kopf. »Ich gehe heute etwas später hin.« Rosalie nickte und Dorothea fragte sich wie so oft, ob sie ihr Doppelleben missbilligte oder ob sie sie verstand.
»Wie war eure Andacht gestern Abend?«, erkundigte sich Rosalie und schob dabei ihren Eimer unter die Pumpe.
Dorothea nickte kurz und murmelte etwas Unverbindliches. Als ihre Familie vor einigen Jahren die Reformierte Kirche verlassen hatte und der Niederländisch-reformierten Gemeinde beigetreten war, waren Rosalie und ihr Vater in der ursprünglichen Gemeinde verblieben. Wie viele andere Elberfelder betrachtete Dr. Kuhn Pastor Kohlbrügge mit Skepsis, er hielt seinen leidenschaftlichen Einsatz für die reine protestantische Lehre für übertrieben. »Religion in Maßen, das wollen diese«, pflegte Dorotheas Vater voller Verachtung über Leute wie Kuhn zu sagen. »Aber das gibt es genauso wenig wie Seligkeit in Maßen. Ganz oder gar nicht, das ist die Losung.«
Zu den Abendandachten, die reihum bei den Gliedern der Gemeinde abgehalten wurden, kamen die Familien, die in der Nähe wohnten. Manchmal erschienen zwanzig, mitunter auch nur zehn Leute. Gestern Abend bei den Leders waren jedoch viele, sehr viele Menschen erschienen, dicht an dicht hatten sie sich in der kleinen Stube und in der Küche zusammengedrängt. Die Stapel von Schmalzbroten, die Frau Leder und Dorothea vorbereitet hatten, waren nach der Andacht innerhalb von Sekunden verschwunden, als habe sie ein großer, hungriger Mund auf einmal eingeatmet.
Von den drei Ältesten waren zwei gekommen – Daniel von der Heydt und Friedrich Thiel – und von den Diakonen August Wolf. Nur Pastor Kohlbrügge selbst war nicht dagewesen.
»Es geht ihm nicht gut«, hatte Daniel von der Heydt Herrn Leder erklärt. »Aber er sendet seine herzlichsten Segenswünsche.« Ihr Vater hatte genickt, verständnisvoll und furchtbar enttäuscht.
»Und bei euch?«, fragte Dorothea Rosalie. »Hat sich etwas Neues wegen der Knochen ergeben?« Genau wie Rosalie stellte sie die Frage mehr aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse, und Rosalie schien das zu spüren. Sie musterte sie einen Moment lang aus leicht zusammengekniffenen Augen.
»Hast du es nicht gelesen? Sie haben in der Zeitung über den Fund geschrieben, Fuhlrott war äußerst erbost darüber.«
Bei den Leders wurden keine Zeitungen gelesen, aber darauf ging Dorothea jetzt nicht ein. »Was haben sie denn berichtet?«
»Dass die Schädeluntersuchung eindeutig ergeben habe, dass das Wesen dem Geschlecht der Flachköpfe angehört, einer frühen Rasse, die heute noch im amerikanischen Westen zu finden ist. Und dass man sich nicht sicher sei, ob es einem Urvolk zuzurechnen ist oder Attilas Hunnenhorden.«
Oder auch einem kürzlich verstorbenen Landstreicher, dachte Dorothea. »Woher wusste die Zeitung denn von den Knochenfunden?«, fragte sie laut.
»Das fragt Fuhlrott sich auch. Vermutlich war es einer aus dem Naturwissenschaftlichen Verein, der gehört hat, wie sich Fuhlrott mit meinem Vater über die Sache unterhalten hat. In jedem Fall ist der Doktor ganz außer sich über das unwissenschaftliche Gerede, das die Veröffentlichung provoziert hat. Außerdem haben ihn zwei Professoren aus Bonn angeschrieben, die ihn bedrängen, ihnen die Gebeine zur Begutachtung zu überlassen.«
»Aha«, sagte Dorothea. Sollte dieser Fuhlrott die Knochen doch nach Bonn schicken, dann wären sie zumindest weg und Rosalie hätte endlich wieder Sinn für etwas anderes.
»Und dieser Apotheker«, fragte sie dann, um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben. »Was hält er denn von der Angelegenheit?«
Rosalie verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre ihr kalt. »Woher sollte ich wissen, was er denkt?«, fragte sie und klang plötzlich verärgert.
Dorothea zuckte mit den Schultern, dann begannen die Glocken der Laurentiuskirche zu schlagen. »Ich muss los«, sagte sie.
Mittags erzählte sie Kirschbaum von den Gebeinen. Im Grunde fing sie nur deshalb damit an,