Untersuchung dieses Gerippes, namentlich des Schädels, gehörte das menschliche Wesen zu dem Geschlecht der Flachköpfe, deren noch heute im amerikanischen Westen wohnen, von denen man in den letzten Jahren noch mehrere Schädel an der obern Donau bei Sigmaringen gefunden hat. Vielleicht trägt dieser Fund zur Erörterung der Frage bei: ob diese Gerippe einem mitteleuropäischen Urvolke oder bloß einer (mit Attila?) streifenden Horde angehört haben.«
(aus einem Artikel im »Barmer Bürgerblatt« vom 9. September 1856)
Dorothea pflückte ein paar Brombeeren vom Strauch und hielt sie in der Hand. Plötzlich verspürte sie das fast unwiderstehliche Bedürfnis, ihre Finger zusammenzupressen und die glänzenden Beeren zu zerquetschen. Aber dann ließ sie die Früchte zu den anderen Beeren in den Korb fallen.
Sie dachte darüber nach, was Rosalie soeben zu ihr gesagt hatte. Dass dieser Fuhlrott auf die Knochen eines Urmenschen gestoßen sei.
Die Knochen eines Urmenschen. Das war ja noch schlimmer als damals die Sache mit den Steinen, die Fuhlrott in der Eifel gefunden hatte und die angeblich mehrere hunderttausend Jahre alt waren. Rosalie hatte Dorothea davon berichtet und Dorothea hatte wiederum ihrer Familie beim Abendbrot davon erzählt. Ihr Vater war außer sich geraten. »Dieser Ketzer, dieser römische Ketzer!«, hatte er getobt, obwohl sie den Namen Fuhlrott gar nicht erwähnt hatte. Dorothea hatte die Augen auf ihren Teller gesenkt und geschwiegen und sich selbst verwünscht, dass sie den Mund nicht hatte halten können.
Abends war ihr Vater dann zu ihr in die Kammer getreten, mit der Bibel in der Hand, sie hatte gerade noch Zeit gehabt, ihr Buch unter dem Kopfkissen verschwinden zu lassen. Sie setzte sich aufs Bett und er setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl, dann schlug er die Schrift auf, das Buch Genesis, und las ihr das Geschlechtsregister von Adam bis Noah und von Sem bis Abraham vor und dann das Geschlechtsregister Esaus und die Könige und Stammesfürsten der Edomiter und schließlich noch einige andere Abschnitte und als ihr schon der Kopf schwirrte von den vielen Namen und Altersangaben und sie sich fragte, ob ihr Vater auf diese Weise das ganze Alte Testament durchgehen wollte, ließ er das Buch sinken und sah sie an.
»Verstehst du?«, fragte er. Sie verstand überhaupt nichts, aber das wollte sie ihm nicht sagen, weil sie befürchtete, dass er dann aufs Neue mit seinem Vortrag beginnen würde. Also nickte sie nur und senkte den Blick.
»Wer Ohren hat zu hören, der höre«, sagte ihr Vater. »Und wer rechnen kann, der rechne. Nach der Heiligen Schrift ist unsere Erde etliche tausend Jahre alt, aber nicht älter, und jeder, der etwas anderes behauptet, stellt sein Wort gegen das des Herrn.« Dann hatte er mit ihr gebetet, und seitdem hatten sie nicht mehr über den Vorfall gesprochen.
So hatte ihr Vater reagiert, als sie nur von altertümlichen Steinen erzählt hatte, und jetzt fing Rosalie sogar von den Skelettresten eines grobschlächtigen Urzeitmenschen an, die dieser verrückte Lehrer gefunden haben wollte. Doch damit wollte Dorothea nichts zu tun haben.
»Aber Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen am sechsten Tag«, sagte sie laut und bestimmt. »In der Bibel steht nichts davon, dass er ihn nach der Erschaffung noch weiter verbessert hat.«
Rosalie pflückte schweigend weiter und Dorothea fragte sich, ob sie die Freundin gekränkt hatte. Rosalie wuchs in einer so ungezwungenen Umgebung auf, ihr Vater ließ sie tun und machen, was sie wollte, so lange sie ihm nur einigermaßen den Haushalt in Ordnung hielt. Schon in der Volksschule hatte ihr ihre freie Art eine Menge Probleme bereitet, dieses Nachfragen und Nachhaken um jeden Preis. Dieses Verlangen, Zusammenhänge zu verstehen, die nicht zu verstehen waren.
Jetzt hätte Dorothea gerne etwas Versöhnliches gesagt, irgendetwas Belangloses, Freundliches, aber ihr fiel nichts ein. Und dann fing Rosalie auch noch von Kirschbaum an. Warum hatte sie ihr nur davon erzählt? Dass sie ihre Eltern hinterging, war schlimm genug. Aber sie hätte die Angelegenheit wenigstens für sich behalten müssen, statt mit Rosalie zu reden, die die Bedeutung dieser Sache ohnehin nie verstehen würde.
Am Montag begann sie ihre Arbeit für Isaak Kirschbaum. Sie betrat den kleinen Laden auf der Alten Freiheit, wie sie ihn unzählige Male zuvor schon betreten hatte: Sie schaute hastig über ihre Schulter, ob sie vielleicht jemand beobachtete, den sie kannte, dann zog sie das Kopftuch tiefer ins Gesicht und ging mit schnellen, kleinen Schritten über die Straße auf die Ladentür zu. Als sie die Tür öffnete, spürte sie die hohen, runden Fenster der Reformierten Kirche hinter sich, wie Augen bohrten sie sich in ihren Rücken. Es war nicht ihre Gemeinde, aber es wäre ihr dennoch lieber gewesen, wenn da ein anderes Gebäude gestanden hätte, nicht ausgerechnet eine Kirche.
Drinnen atmete sie aus und dann tief ein. Wie sie ihn liebte, diesen staubigen, muffigen Geruch nach Papier und die hohen, schmalen Regale, die sich deckenhoch und dicht an dicht drängten. Voller Bücher.
»Wünsche einen guten Morgen«, hörte sie eine vertraute Stimme irgendwo hinter den Regalen, auch das war wie immer.
»Guten Morgen«, gab sie zurück und zog dabei ihr Kopftuch vom Haar und den Mantel aus und das war neu.
Herr Kirschbaum kam zwischen zwei Regalreihen hervor und gab ihr die Hand. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, war sie überrascht darüber, wie klein er war, nur ein wenig größer als sie selbst. »Ich freue mich sehr«, sagte er förmlich. »Hätte nicht gedacht ...«, dann brach er ab, drehte sich um und ging vor ihr her zu dem Schreibtisch, der auf einer kleinen Empore inmitten der Regale stand.
»Hier, das wäre ... das ist Ihr Platz«, begann er. Ihr Blick wanderte zum Fenster, vom Schreibtisch aus konnte man auf die Straße sehen und von der Straße auf den Schreibtisch. Jeder, der vorbeiging, würde sie sehen können, wie sie an diesem Schreibtisch saß und arbeitete.
»Oder, wenn Sie wünschen, dort, im Hinterzimmer«, sagte Kirschbaum, der ihrem Blick gefolgt war.
Den ganzen Vormittag saß sie dort, umgeben von hohen Bücherstapeln, Büchern, die von den Lesern wieder zurückgebracht worden waren und deren Titel sie nun in der Ausleihkartei suchte. Wenn sie die betreffende Karte gefunden hatte, dann strich sie den untersten Namen auf der Liste durch und sortierte die Karte in alphabetischer Ordnung zurück in die Kartei. Und am Ende nahm sie die Bücher und stellte jeden Band zurück an seine Stelle im Regal.
Neben dem Tisch lag ein hoher Stapel mit neuen Büchern, druckfrisch von Verlagen, die sie für den Verleih vorzubereiten hatte, und während sie die Seiten aufschnitt, las sie hier einen Absatz und dort ein Wort, und immer wieder begann ihr Herz schnell und aufgeregt zu schlagen, so sehr freute sie sich, dass sie hier war. Und so sehr schämte sie sich.
Ihre Eltern dachten, dass sie sich um Tante Lioba kümmerte, die oben in der Nordstadt in einem kleinen Häuschen ganz alleine wohnte, aber die man nicht mehr allein lassen konnte, seit sie geworden war wie ein kleines Kind. Aber statt Dorothea ging die alte Walpurga zur Tante und Dorothea gab ihr dafür fast das ganze Geld, das sie bei Kirschbaum verdiente. Einen kleinen Teil gab sie ihr dafür, dass sie auf die Tante aufpasste und für sie kochte und ihr das Haus in Ordnung hielt, und einen größeren Teil gab sie ihr, damit sie den Mund hielt und niemandem davon erzählte.
Um zwölf Uhr ging Kirschbaum in seine kleine Wohnung hinter der Bibliothek und kurze Zeit später zog ein wunderbarer Geruch durch die halb offene Tür in den Raum, in dem Dorothea saß und arbeitete, und sie merkte, dass sie hungrig war. Sie fragte sich, ob es nun an der Zeit war, die Brote herauszuholen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, aber während sie noch darüber nachdachte, hörte sie ein Geräusch. Als sie aufblickte, sah sie Kirschbaum auf der Türschwelle stehen, klein und rundlich und ernst. Seine dunklen Augen unter den dichten Brauen wirkten irgendwie überrascht, als wunderte er sich, sie hier zu sehen.
»Also«, sagte er nach ein paar Sekunden leise. »Das Essen ist fertig.«
Dann drehte er sich um und ging. Sie folgte ihm in eine kleine, dunkle Küche, deren schmales Fenster unter der Decke lag, so dass man nicht hinaussehen konnte. Auf einem winzigen Tisch standen zwei Teller mit Suppe und davor warteten zwei Stühle, er hatte tatsächlich für sie gekocht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, er sagte auch nichts und setzte sich schweigend hin, also nahm sie auf dem anderen Stuhl Platz. »Einen guten Appetit wünsche ich.« Er nahm