Gina Mayer

Das Medaillon


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zu, wie er es immer tat, wenn sie etwas erzählte.

      »Ich glaube, ich kann mich an die Notiz in der Zeitung erinnern«, sagte er schließlich. »Fossile Knochen, das wäre in der Tat bemerkenswert.«

      »Ich glaube auch, dass es einer von Attilas Hunnen war oder ein Mensch aus einer noch späteren Zeit«, sagte Dorothea.

      »Warum glauben Sie das?«, fragte er erstaunt.

      »Weil ich an die Worte der Bibel glaube«, gab sie ebenso erstaunt zurück. Die Schöpfungsgeschichte aus dem Ersten Buch Mose musste er doch kennen, das Alte Testament galt schließlich auch für die Juden.

      »Sicher glauben Sie daran«, nickte er. Dann stach er ein Stück Kartoffel auf seine Gabel und führte es zum Mund, aber auf halbem Weg ließ er die Gabel wieder sinken und sah sie an. »Aber wenn das eine stimmt, dann muss das andere doch nicht falsch sein.«

      »Wie meinen Sie das?«

      Er strich die Kartoffel wieder von der Gabel und legte das Besteck neben den Teller. »Sehen Sie«, sagte er. »Die Bibel ist von Menschen geschrieben worden. Von besonderen Menschen, Auserwählten ohne Zweifel, aber gleichwohl von Menschen.«

      Sie nickte.

      »So haben sie das, was Gott ihnen offenbarte, mit Menschenworten beschrieben. Sie haben die göttliche Wahrheit für unseren kleinen Menschenverstand begreiflich gemacht.«

      Sie nickte wieder, unsicher, worauf er hinauswollte.

      »Aber Gott, der sich hinter ihren Berichten verbirgt, ist groß und mächtig und unbegreiflich. Verstehen Sie, es kommt nicht darauf an, ob er die Welt in sechs Tagen erschaffen hat oder in zwei Wochen oder in Jahrhunderten. Es ist nicht wichtig, ob er zuerst die Vögel oder die Fische ins Leben gerufen hat. Entscheidend ist allein, dass er es getan hat. Ob Sie glauben, dass er es getan hat. Das allein zählt.«

      Es war die längste Rede, die sie je von ihm gehört hatte.

      Sie wusste nicht, was sie von seinen Worten halten sollte. Leugnete er die Bedeutung der Schrift oder gab er ihr eine neue, eine viel größere Bedeutung? Sie dachte noch darüber nach, als er seinen halb vollen Teller von sich schob und seufzte. »Der Glaube, Fräulein Leder, das ist das Entscheidende. Bewahren Sie sich Ihren Glauben.«

      Er sprach mit einer solchen Wehmut, mit einer solchen Sehnsucht, dass sie ihm am liebsten mehrere Fragen auf einmal gestellt hätte. Wann er seinen Glauben verloren hatte und warum. Was es mit der weinenden Frau auf sich hatte. Ob er wirklich Geldgeschäfte betrieb. Aber sämtliche Fragen erschienen ihr viel zu persönlich und zu indiskret, so dass sie sie zusammen mit einem Stück Kartoffel und etwas Kohl hinunterschluckte.

      3. Kapitel

      »Auf dem Gebiet des Körperlichen zunächst dürfte die Behauptung eines Differenzirungsmangels der Frauen Geltung haben. Durch die ganze Natur hindurch ist das weibliche Geschlecht weniger modifizirt als das männliche; das Weibchen ist überall den Jungen der eigenen Spezies ähnlicher als das Männchen; bei den verschiedensten Menschenrassen haben Messungen ergeben, dass die Männer weit mehr von einander verschieden sind als die Frauen. Und dieses Verhältniss wiederholt sich am Individuum. Die Oberfläche des männlichen Körpers ist mehr differenzirt als die des weiblichen. Das Knochengerüst tritt energischer hervor, macht sich durch Hebungen und Senkungen bemerkbar, während bei dem Weibe die gleichmäßigeren Fettpolster den Körper als eine mehr ebene, nur in großen Zügen gehobne und gesenkte Fläche erscheinen lassen.«

      (aus »Zur Psychologie der Frauen« von Georg Simmel, 1890)

      Fuhlrotts Haar sträubte sich über seinem Kopf, grau und wirr, es sah aus, als wäre es gefroren. Der Winter war in diesem Jahr früh gekommen, schon im November war der erste Schnee gefallen und jetzt im Dezember waren die Pfützen auf den Elberfelder Straßen schwarz und hart wie Glas und die Dächer von einer weißlichen Eisschicht überzogen.

      Rosalie schlang ihre Arme um ihren Körper und tat einen Schritt zur Seite, damit Fuhlrott rasch eintreten konnte und möglichst wenig von der eisigen Winterluft nach drinnen drang. Dabei war es egal, denn im Haus war es nicht viel wärmer als draußen auf der Straße. Selbst wenn der Ofen glühte, schien die Wärme direkt wieder durch die Wände zu entweichen, sie verflog in den zahllosen unbewohnten Räumen und löste sich unter den hohen Decken auf.

      Fuhlrott zog seine Fäustlinge von den Händen und blies auf die rot gefrorenen Finger. In der Dunkelheit des Hausflurs bildete sein Atem eine weiße Wolke.

      »Ein lausiges Wetter«, knurrte er. »Ist unser junger Freund denn schon eingetroffen?«

      Unser junger Freund. Rosalie spürte, wie die Kälte in ihren Gliedern einer heißen Wut wich. Immer wenn sich die beiden Doktoren abends trafen, war jetzt auch der Apotheker dabei. Sie hatten ihn aufgenommen in ihren Männerbund, er war wie sie Mitglied im Naturwissenschaftlichen Verein, sie nahmen ihn ernst auf eine Weise, wie sie Rosalie nie ernst nehmen würden, obwohl sie nur wenige Jahre jünger war als Minter.

      Er war ein Mann und sie eine Frau, das war der ganze Unterschied.

      Fuhlrott, der nichts von ihren zornigen Gedanken ahnte, ging vor ihr die Treppe hinauf, er summte leise vor sich hin in Erwartung der anregenden Unterhaltung.

      Als er das Kaminzimmer betrat, erhob sich Dr. Kuhn halb aus seinem Sessel.

      »Ah, der Bildungsreisende ist wieder zurück«, rief er Fuhlrott entgegen, halb spöttisch, halb ehrerbietend. »Nun, was haben die Gespräche in Bonn ergeben?«

      »Bestätigung«, rief Fuhlrott, während er zuerst Kuhn, dann Minter die Hand schüttelte, der auf dem Sofa saß, sein Bierglas schon vor sich. »Bestätigung in jeder Hinsicht.«

      Er nahm in einem Sessel Platz, lächelte schief und ein wenig herablassend, als er sah, wie die beiden anderen sich erwartungsvoll nach vorn beugten.

      Rosalie überlegte, ob sie den Abend allein in der Küche verbringen sollte oder gleich in ihrem eiskalten Schlafzimmer, die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. »Einen Krug für unseren Gast«, sagte ihr Vater fröhlich, dabei wandte er sich nicht einmal nach ihr um, aber natürlich sprach er mit ihr.

      Sie drehte sich um und ging in die Küche, wo Friedel Kartoffeln schälte. Sie summte leise bei der Arbeit und beachtete Rosalie, die einen Krug aus dem Schrank holte, gar nicht. Erst als der Becher aus Rosalies Händen glitt und auf dem Boden zersprang, fuhr Friedel zusammen und ließ vor lauter Schreck auch ihr Messer und die Kartoffel fallen.

      Die Scherben flogen in alle Richtungen.

      »Herr im Himmel«, jammerte Friedel, Rosalie dagegen fühlte eine große Befriedigung. Am liebsten hätte sie noch einen Krug aus dem Schrank genommen und gleich hinterher geworfen. Friedel bückte sich nach Kehrblech und Besen, aber Rosalie hielt sie zurück. »Lass nur, das mache ich.«

      Sie sammelte die größeren Scherben in ihre Hand und schnitt sich dabei in die Finger. Im gelblichen Licht der Öllampe sah sie, wie der Schnitt dunkelrot wurde, und auch das erfüllte sie mit Befriedigung. Sie starrte auf das Blut, das nun aus dem Riss quoll und über ihren Zeigefinger lief und dann über die Hand.

      »Um Gottes Willen.« Jetzt hatte auch Friedel die Wunde bemerkt. »Was machst du denn, Rosalie? Du lieber Herrgott im Himmel, ich will gleich Verbandszeug holen.« Sie eilte aus der Küche und stieß dabei fast mit Minter zusammen, der plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war.

      »Haben Sie sich verletzt?«, fragte er unnötigerweise.

      »Es ist nichts«, sagte Rosalie. »Nur ein kleiner Kratzer. Friedel wird die Wunde versorgen. Bitte, nehmen Sie sich einen neuen Krug aus dem Schrank.« Und lassen Sie mich in Ruhe, vervollständigte sie den Satz im Geiste.

      »Das ist ein tiefer Schnitt.« Minter trat näher. Er fasste die blutverschmierte Hand am Gelenk und betrachtete sie mit einer Mischung aus Interesse und Widerwillen.

      Nun kam Friedel mit einer Mullbinde zurück in die Küche, die sie aus der Praxis geholt hatte.

      »Geben Sie her«, sagte Minter und nahm