Monika Detering

Zitronenhimmel


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und nahm Abschied von ihm. Aber auch das kam nicht bei mir an. Eigentlich dachte ich, ich muss nach Hause, Achim kommt gleich.«

      »Und dann?«

      »Ruhe wollte ich haben. Warten. Bis ich damit aufhörte. Wie ein Zombie schrieb ich einen Roman zu Ende. Er war wohl okay, sonst läge er nicht in den Buchhandlungen und würde nachgefragt. Nur gelesen – habe ich daraus nie.

      Endlich – nach langen Wochen, kamen die Pläne von einem anderen Leben wieder ins Gedächtnis. Vor allem, als die Pflegerin weg war. Als ich darüber mit meiner Tochter sprach, verstand sie mich nicht. Vielleicht hatte sie die Vorstellung, dass eine frisch verwitwete Frau still und ergeben ihr Leid zu tragen habe. Jeder zerrte wohlwollend an mir. Aber ich fühlte mich wie gefangen genommen. Zum Trauern ließ mir keiner Zeit. Ich wollte auf meine Weise nachdenken. Sie ließen mich nicht. ›Du sollst nicht allein sein!‹

      Es kam zu Auseinandersetzungen, und letztendlich stritten wir laut und waren voneinander enttäuscht. Es gab versteckte Hinweise, ich hätte vielleicht Schuld daran, dass Achim sich anderweitig orientiert hatte.«

      »Hattest du?«, fragte Ekkard.

      »Schuld ist ein gewichtiges Wort. Wenn man sich zu gut kennt, kommt der Hunger auf Unbekanntes. Das hätte mir auch passieren können. Interessant war, dass die Frau keine ganz junge war, sie war Mitte Fünfzig. Also eher eine ernst zu nehmende Geschichte. Ich denke, diese Frau hat auch auf ihre Weise gelitten. Als mir das klar war, ging es mir besser. Erst dachte ich: du Nutte.

      Dann: Auch du wirst alt. Bis mir einleuchtete, dass Liebe überall ausbrechen kann. Wenn sie mit meinem Mann in irgendeinem kleinen Hotel … Soll sie diese Erinnerungen behalten. Ich habe meine. Ich sprach mit meinem Arzt, und als er mich gesund genug fand, entschied ich mich. Eine verschwiegene Freundin half. Nur das Wichtigste packten wir in den kleinen Wohnwagen, den Achim und ich gekauft hatten. Was übrig blieb, ließ ich durch einen Haushaltsauflöser abholen. Erinnerungen, die für meine Tochter wichtig waren, packte ich ein und brachte sie ihr.«

      »Warum hast du die Ostsee ausgesucht?«

      »Wir sind letztes Jahr im September rauf zur Ostsee und wollten uns einen kleinen Ort ausgucken, in dem wir den kommenden Sommer hätten leben können. Wir mochten die Ostsee, Stralsund. Vorpommern, die Boddenlandschaft. Wir fanden dieses Dorf. Wie so etwas manchmal passiert. Achim war ja in Rente gegangen und ich kann an jedem Ort der Welt schreiben, Hauptsache, ich habe Internet oder einen Hotspot. Als ich hierher wollte, habe ich mich bei der Bürgermeisterin nach einem Stellplatz für mein Wohnmobil erkundigt und Interesse an einem Hauskauf gezeigt.«

      »Und dann?«, fragte Ekkard.

      »Schwierig. Ich hatte Angst. Ich war auch feige. An jedem Tag, der meiner Abreise näherkam, schnitt ich ein Stück des bisherigen Lebens ab. Und dabei stiegen so viele Szenen auf, wie ich damals mit Achim in dieser Stadt angefangen hatte und wir eine Familie wurden. Ich wollte meiner Tochter die Gründe meiner Abreise erklären … ich fand nicht die richtigen Worte. Heute weiß ich, dass es sie geschmerzt hatte, weil ich mit einem Mal ausbrechen wollte. Jeder Versuch endete in Missverstehen. Wir waren nur noch voneinander gekränkt.

      Ich schrieb meiner Tochter, erklärte noch einmal, hoffte auf Verständnis und hoffte auf ein schnelles Wiedersehen. Schrieb auch meine Anschrift dazu, die hatte ich schon. Aber die war nicht so wichtig, wir hatten ja unsere Mail-Adressen und WhatsApp.

      Ich kann zwar sagen, jeder hat ein Recht auf ein eigenes Leben, aber ich kann schwer mit Kathrins Verletzungen umgehen.«

      Charleen sagte nichts von ihrem täglichen Briefkastengang, von dem häufigen Öffnen der Mailbox. Kurze Nachrichten und Fotos schickte sie, rief auch an, und dennoch erfuhr sie nichts Persönliches. Sie sagte auch nicht, dieses Schweigen macht mich traurig und raubt mir den Schlaf.

      ***

      Sie saßen zusammen und schwiegen lange – bis die ersten Hähne krähten. Ein schon vertrautes Schweigen, in dem Gedanken hin- und hergingen.

      »Wann erzählst du mir von Korsika?«, fragte er irgendwann.

      »Bald.« Charleen blickte auf seine Hände, die leicht zitterten.

      »Hast du deshalb deinen Beruf aufgegeben?«

      »Ja.«

      Ekkard stand auf. »Diese Luft – im Sommer ist es zwischen fünf und sechs Uhr im Dorf am schönsten.« Er beugte sich vor und streifte mit einem leichten Kuss Charleens Wange.

      Ein Kuss. Sonnenaufgang, viel Landschaft, und Charleen wollte nicht müde sein. Mit Handtüchern und frischer Kleidung radelte sie zum Bodden. Im Frühjahr hatte sie eine winzige Bucht gefunden, wunderbar zum Sonnen und Baden.

      Mit den Zehen testete sie die Wassertemperatur. Mit Gänsehaut stakte sie vorsichtig, fühlte Kiesel unter den Fußsohlen, und tauchte unter. Anders würde sie noch in einer halben Stunde überlegen, schwimmen oder nicht? Sie kraulte, bis ihr Gräser durchs Gesicht fuhren, und merkte, dass die Fingerspitzen schrumpften und gefühllos wurden. Schnell schwamm sie zum Ufer, und lag wenige Minuten später warmgerubbelt vor Schilf und Rohr. Neben ihr wuchsen Disteln und Löwenzahn. Charleen horchte den Geräuschen nach, Keckern, Tschilpen, Rascheln. Sie schrieb Stichworte in ihr Notizbuch. Gedanken über Ekkard. Was machte ein Uhrmacher, der nicht mehr arbeiten konnte, in diesem winzigen Dorf an der Ostsee? Anfangs war sie misstrauisch gewesen, als er begann, zum Wohnwagen zu kommen und sie nach draußen zu rufen. Inzwischen hatte sie ihm einen Teil ihres Lebens erzählt. Sie mochte sein Gesicht, seine Falten, seine breiten Schultern, die Ironie, die er versprühte, seinen schwarzen Witz. Aber bisher hatte sie sich gehütet, allzu viel nach seinem Leben zu fragen. Er sah nach Geheimnissen aus. Nach Frauen.

      Wie lange sie in dieser schilfbewachsenen Bucht lag, vergaß sie. Ein Faulenzermorgen, den sie früher nie gehabt hatte. Wenn sie an ihr altes Leben dachte – war ihr manchmal, als habe sie es nur gelesen. Es war so weit von ihr entfernt. Auch Achim. Sein Grab war nur eine rechteckige Platte mit seinem Namen, Ankunft und Abschied von der Welt. Sie brauchte ihn nicht zu begießen.

      Auf dem Rückweg sang sie und musste lachen, als sie an die Situation mit der Jagdflinte dachte. Bisher kannte Ekkard ja nicht das Innere von ›Hector‹. Darin herrschte ein für andere unzumutbares Durcheinander. Die meisten Koffer und Kartons waren seit ihrer Ankunft im letzten Herbst verschlossen geblieben. In einem roten Kasten befanden sich ihre Veröffentlichungen und wichtige Papiere.

      Kann ich Ekkard in mein Wohnmobil lassen? Nee, entschied sie. Ich kenne auch nur den Garten, nicht sein Haus, das er sich mit Herrn Piritz teilt. Kurz hatte sie überlegt, ob die beiden ein Paar waren. Vorstellen konnte sie es sich nicht. Aber man kann sich eben nicht alles vorstellen. Der kleine rundliche Walter Piritz mit Schnurrbärtchen, immer in Weste und Anzugshose. Ekkard kannte sie nur in Jeans, Shirts und Sandalen. Herr Piritz trug immer sorgfältig geputzte dunkle Schnürschuhe. Während sie sich mit Ekkard sofort geduzt hatte, blieb es bei Herrn Piritz beim förmlichen ›Sie‹. Der Mann begutachtete sie weiterhin kritisch, ebenso wie die Nachbarinnen, die Güse, die Holbein und die Frau Venderbusch. Sie waren freundlich. Aber sie blieben auf Abstand. Ekkard war unkomplizierter. Lässiger. Er liebte seine Uhren, obwohl – gesehen hatte sie bei ihm noch keine außergewöhnliche. Uhrmacher konnte er nicht mehr sein wegen der zitternden Hände.

      ***

      Sie ließ ›Hectors‹ Tür weit offen. Die Hitze staute sich hier drin schnell. Ihren Kaffee trank sie aus einem Becher mit Lächel-Smiley. Erinnerung an Achim, die Tasse hatte ihm gehört. Aber sie dachte nicht mehr daran, es war eine Gewohnheitstasse geworden. Sie überlegte nur – noch ein paar Jahre, und Achim wäre mit seinem Älterwerden nicht fertig geworden. Und ich hätte ihn immer und immer trösten müssen, als wäre ich seine Mutter. Irgendwann hätte es keine Freundin mehr gegeben …

      Sie fand Ekkard charmanter, witziger. Aber Vergleiche waren gemein. Schließlich hatte sie sich vor fast 40 Jahren in Achim verliebt. Und er sich in sie. Sehr heftig. Und es reizte, dass seine Eltern gegen die Verbindung waren. Das stärkte ihren Zusammenhalt. Dass er so wurde, wie er war, etwas pedantisch, etwas eitel, sehr häuslich