Sie war ja auch nicht mehr jene Charleen, damals noch etwas farblos, aber hellwach. Sie wurde immer wacher und weniger farblos. Sie hatten sich miteinander eingerichtet und ihre Ehe war nicht unglücklich, war um vieles besser als die der Bekannten und Freunde. Das war doch eine Menge!
Charleen schüttelte den Kopf. Plötzlich wollte er mittags und abends warm essen, das war, bevor wir uns auf die Suche nach einem Domizil an der Ostsee machten. War eine Macke. Gott, bin ich froh, nicht unbedingt warm essen zu müssen. Höchstens mal zu wollen. Sie hatte sich angewöhnt, meistens kalt zu essen. Daran konnte sie sich schnell gewöhnen. Auch, ohne Waschmaschine auszukommen. Handwäsche ging ebenfalls. Mit ihrer Kleidung war sie auch um Äonen lässiger geworden. Der Spiegel in der winzigen Dusche mit Toilette zeigte sowieso nur bis zum Hals. Alles Gediegene aus teuren Stoffen, alles, was Achim so ›reizend‹ und ›kleidsam‹ gefunden hatte, fand sie ältlich und staubig. Sie brachte die Sachen in die Kleiderkammer und kleidete sich in Stralsund neu ein. Was hatte sie sich befreit gefühlt und um tausend Jahre jünger!
»Trara, die Post ist da, Frau Rappard!« Fritzi, Postbotin. Schmal, mit weizenblondem Pferdeschwanz.
Charleen sprang aus ihrem Hinterausgang. »Seien Sie doch nicht albern.«
»Bisschen zu heiß, was?« Fritzi trank aus einer Flasche. »Ich habe einen Brief für Sie.« Sie drehte ihn um. »Aus Bonn.«
Bonn? Charleens Herz wollte sich verknoten.
»Geht’s Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch.« Eigentlich war sie außer sich. Was ging Fritzi der Absender an? Ihr dunkles Haar mit den grauen Strähnen hing ihr tief ins Gesicht, so konnte die Postbotin ihren Unmut nicht sehen. Ganz schnell blickte sie auf die runde Schrift, Kinderschrift. Als wäre der Brief lebendig, so schnell drehte sie ihn um und guckte woanders hin. Trotzdem bekam sie feuchte Augen.
Die Postbotin lehnte sich gegen ihr Lastenfahrrad. »Waren Sie wieder schwimmen? Und haben über den Sinn des Wohnens in dieser Enge hier nachgedacht?«
»Das Wohnen im ›Hector‹ ergibt noch keinen Wohn-Sinn. Vielleicht denke ich immer noch über meine Reise nach. Ich hätte woanders halten können. Warum also? Nur, weil ich dieses Ziel mit meinem Mann einmal geplant hatte?«
»Zufällig ist so etwas nicht. Auch wenn man meint, zufällig hier oder dort zu sein. Sie kamen vor acht Monaten bei strömenden Regen an. War so eine Sauwetterperiode. Ich finde es ja mutig, in Ihrem Alter neu anzufangen. Hatte ich vor ein paar Jahren auch vor. Bin doch erst vierundvierzig, jung oder alt genug, mein Leben umzukrempeln. Und dann stellte ich fest, dass ich es hier gut habe, und bin geblieben. Inzwischen mag ich meinen Job. Wenn ich auch nicht viel verdiene, er gibt mir eine Form der Freiheit. Ich kann trotzdem lecker essen, im Meer schwimmen, kann albern sein und auch sehr viel lieben. In Stralsund wäre ich jeden Tag im Büro, ich hab ja mal BWL studiert – ist aber nicht so mein Ding. Übrigens, das Haus Nummer drei, das mit den blauen Fensterläden am Anfang der Straße, soll verkauft werden. Die Eigentümerin würde auch vermieten. Ist ein bisschen marode, aber es geht. Falls es Sie interessiert? Dann melden Sie sich einfach bei Herta, Herta Dornfeld. Die wohnt in Nummer neun. Sie hatten doch mal gesagt, dass Sie was suchen? Immer in so einem Wohnwagen zu leben ist vielleicht nicht der Hit. Oder wollen Sie weiterziehen? Ich würde es schade finden, ich habe mich an Sie gewöhnt. Und bin eigentlich etwas neidisch auf Ihre Ungebundenheit.«
»Nummer drei? Wirklich? Würde mich interessieren.« Der vergangene Winter war anstrengend gewesen. Sie hatte letztes Jahr viel früher hier sein wollen. Aber dann wollte sie den Sommer über in den Süden, hatte kehrtgemacht und diese Zwischenreise endete auf Korsika …
»Melden Sie sich bei Frau Dornfeld? Und ja, ich mag Sie. Das wollte ich doch mal sagen!«
»Tschüss!« Charleen hängte die nassen Handtücher auf, auch die zuletzt getragene Kleidung. Zog sie glatt, zupfte, entfernte Fusseln, die keine waren, und horchte, ob die Postbotin weitergeradelt war.
Der Brief! Sie drehte ihn um und las erneut den Absender. Sie war so aufgeregt, dass er ihr aus den Fingern rutschte, hob ihn auf und legte ihn wie eine irritierende Kostbarkeit auf die winzige Ablage neben der Spüle. Es war ihr nicht möglich, ihn zu öffnen.
Trotzdem. Sie fand sich ziemlich albern. Ist doch kein Liebesbrief!
3
Charleen schlug um sich. »Scheißviecher!« Wieder kratzte sie beidhändig an den Armen und Fußknöcheln. Mücken. Jeder Stich schwoll an; sie hätte nicht kratzen dürfen, aber sie kratzte. Selbst ihr Gehirn schien zu jucken. Die gehören wohl auch zu meinem neuen Leben? »Scheiße!«, sagte sie mit Vergnügen. Achim hatte Vulgärausdrücke unpassend gefunden. Kathrin, ihre Tochter, auch.
Der Brief aus Bonn lag weiterhin verschlossen da. Ich brauche keine schlechten Nachrichten! Sie griff nach ihrer dünnen Wollmütze und setzte sie auf. Mückenschutz und Tarnkappe. Holte das Notebook und eine Wanne mit kaltem Wasser. Setzte sich in einen Gartenstuhl, stellte die Füße in die Wanne, fuhr das Notebook hoch, suchte ihre aktuelle Datei, und starrte auf den Text. Schrieb. Vergaß Hunger und Durst. Alle Mücken, die sie ausgelassen stachen. Zuckte zusammen, als sie »Plätschern und schreiben. Madame Rappard und ihr neuer Roman. Warte mal grad« hörte. Ekkard, der sein Smartphone zückte und knipste.
Irritiert blickte sie hoch. »Ich hab’ einen Brief bekommen«, und stellte das Notebook auf einer Kiste ab.
»So, wie du guckst, muss es sich um etwas sehr Besonderes handeln.«
»Ich hab’ Hemmungen, ihn zu öffnen. Ziemlich blöd, was? Er ist von meiner Enkelin. Sie hat mir noch nie geschrieben.«
»Warum willst oder kannst du ihn nicht lesen?«
»Ach …«
»Wie alt ist das Mädchen?«
»Zehn.«
»Mach ihn auf. Er wird dir sowieso keine Ruhe lassen. – Darf ich mich setzen?«
»Warum nicht? Wenn du so vor mir stehst, sieht’s ja aus, als würdest du auf mich herabgucken. Will ich auch nicht.« Charleen zeigte auf einen Klappstuhl.
»Dir fehlt deine Familie?«
»Ich brauche Zeit. Ein bisschen habe ich dir schon erzählt. Ich liebe sie alle, aber ich darf auch kilometermäßig weit von ihnen wohnen. Andere Großmütter leben in Colorado oder am Þingvellir, und dennoch ist alles gut. Ach ja. Island wäre auch eine Reise wert. Ich würde gerne die Þingvellir-Kirche und die alten Steinhäuser kennenlernen. Oder Reykjavik …«
»Wolltest du nicht in den Süden?«, fragte Ekkard. »Frauen ändern dauernd ihre Meinung.«
Charleen blickte ihn streng an.
»Wäre es dir auf Island nicht zu kalt? Du frierst doch leicht. Jedenfalls habe ich das so wahrgenommen«, ergänzte er schnell, als er ihre skeptische Miene sah.
»Ich will immer beides, eigentlich alles, und dann verzettele ich mich. Und was du festzustellen meinst … Beobachtest du mich?«
»Wie war das denn mit Korsika. Erzähl. Ich habe Zeit.«
»Jetzt?«
Er nickte.
»Ich war eigentlich schon auf dem Weg hierher … Und dann drehte ich um und bretterte regelrecht der Insel entgegen. Übernachtete auf Campingplätzen, hörte von Castagniccia, und hatte berauschende Vorstellungen von einem Esskastanienwald. Andere erzählten von einer Gemeinschaft, die dort in den Bergen lebte. Warum nicht, dachte ich und fuhr dahin. Die Menschen dort nahmen mich in dem winzigen Bergdorf auf. Ein paar Häuser und Kastanienbäume. Manche Häuser waren arg verfallen, die Männer richteten zwei für den Winter her. Besserten Dächer aus und machten die Fenster winterdicht. Meine Gegenleistung fürs Wohnen und Essen war kochen und putzen. Ich schlief in einer Hängematte und mir machte auch das Freiluftbadezimmer nichts aus. Wo ich doch sonst darin ziemlich eigen bin. Na ja. Es stellte sich die Frage: Bleibst du? Das war kurz vor Beginn der Herbststürme. Ich packte, verabschiedete mich mit dem Versprechen, die Gemeinschaft irgendwann einmal