Федор Достоевский

Die Brüder Karamasow


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wie dankbar bin ich Ihnen! Sehen Sie, ich schließe oft die Augen und denke: Wie kommt es, daß alle Menschen glauben? Es wird vielfach gesagt, das habe seinen Ursprung in der Furcht vor schrecklichen Naturerscheinungen, weiter gar nichts. Und nun denke ich: Wenn ich mein ganzes Leben geglaubt habe und dann sterbe, und dann ist da nichts, und auf dem Grabe wächst die Klette, wie ich bei einem Dichter las? Das wäre doch entsetzlich! Wodurch kann ich den Glauben wiedererlangen? Übrigens habe ich nur geglaubt, als ich noch klein war, mechanisch, ohne etwas dabei zu denken. Aber wie und wodurch läßt sich das beweisen? Ich bin gekommen, um vor Ihnen niederzufallen und Sie um Auskunft zu bitten. Denn wenn ich jetzt die Gelegenheit verstreichen lasse, wird mir mein Leben lang niemand mehr meine Frage beantworten. Wie läßt es sich beweisen, wie kann man zur Überzeugung gelangen? Oh, das ist mein Unglück! Ich stehe da und sehe, daß allen oder fast allen rings um mich her die ganze Sache gleichgültig ist und daß niemand sich darum Sorge macht – nur ich kann das nicht ertragen. Das richtet mich zugrunde, völlig zugrunde!«

      »Ohne Zweifel richtet das einen Menschen zugrunde. Beweisen läßt sich hier allerdings nichts; doch zur Überzeugung zu gelangen, das ist möglich.«

      »Wie das? Wodurch?«

      »Durch die Erfahrung der tätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben! Je größere Fortschritte Sie in der Liebe machen, desto mehr werden Sie sich überzeugen von dem Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele. Und wenn Sie in Ihrer Nächstenliebe bei völliger Selbstverleugnung angelangt sind, dann werden Sie auch zuversichtlich glauben, und kein Zweifel wird mehr in Ihre Seele Eingang finden. Das ist erprobt, das ist sicher.«

      »Tätige Liebe? Das ist auch wieder eine Frage, und zwar eine schwere, schwere Frage! Sehen Sie, ich liebe die Menschheit so sehr, daß ich – werden Sie mir das glauben? – manchmal daran denke, alles, was ich besitze, von mir zu werfen, Lisa zu verlassen und Barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, denke und träume; in solchen Augenblicken fühle ich eine unwiderstehliche Kraft in mir. Keine Wunde, kein eiterndes Geschwür könnte mich schrecken. Ich würde sie verbinden und mit meinen eigenen Händen waschen, ich würde die Wärterin dieser Leidenden sein, ich wäre bereit, diese Geschwüre zu küssen.«

      »Es ist schon viel und gut, wenn Ihr Geist davon träumt und nicht von etwas anderem. Nein, nein, Sie, werden wirklich eine gute Tat tun, bevor Sie sich dessen versehen.«

      »Aber könnte ich so ein Leben lange führen?« fuhr die Dame erregt, beinahe außer sich fort. »Das ist die Hauptfrage, das ist die Frage, die mich am meisten quält. Ich schließe die Augen und frage mich: Würdest du es lange auf diesem Weg aushalten? Und wenn der Kranke, dessen Geschwüre du wäschst, dies nicht sogleich durch Dankbarkeit vergilt, sondern dich im Gegenteil anschreit, ohne deine Menschenfreundlichkeit zu bemerken und zu würdigen; wenn er in grobem Ton dies und das verlangt und sich sogar bei den Vorgesetzten beschwert. Wie es bei Schwerkranken häufig vorkommt? Was dann? Wird deine Liebe fortdauern oder nicht? Und denken Sie, ich habe mir mit Zittern und Zagen bereits die Antwort auf diese Frage gegeben: Wenn irgend etwas meine tätige Liebe zur Menschheit sofort auslöschen kann, so ist es einzig und allein der Undank. Ich bin eben eine Lohnarbeiterin: ich fordere augenblicklich Bezahlung, Lob und Vergeltung meiner Liebe durch Gegenliebe. Anders kann ich niemanden lieben!«

      Es war ein Anfall aufrichtigster Selbstanklage, und sie blickte, als sie geendet hatte, den Starez mit herausfordernder Entschlossenheit an.

      »Genau dasselbe hat mir schon vor langer Zeit ein Arzt erzählt«, erwiderte der Starez. »Er war ein schon bejahrter Mann und unstreitig klug. Er sprach ebenso offen wie Sie, zwar scherzend, aber dabei traurig. ›Ich liebe die Menschheit‹, sagte er, ›aber ich wundere mich über mich selbst: je mehr ich die Menschen liebe, desto weniger liebe ich den einzelnen Menschen, das Individuum. Wenn ich mich so meinen Träumereien hingab‹, sagte er, ›hatte ich manchmal die seltsamsten Absichten, der Menschheit zu dienen. Ich würde mich vielleicht für die Menschen kreuzigen lassen, wenn das einmal irgendwie nötig wäre – und dabei bin ich außerstande, auch nur zwei Tage mit jemand dasselbe Zimmer zu teilen. Ich weiß das aus Erfahrung. Kaum kommt er mir nahe, verletzt seine Persönlichkeit schon meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. Ein einziger Tag genügt schon, mich den besten Menschen hassen zu lehren: den einen, weil er mittags zu langsam ißt, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich fortwährend schneuzt. Sobald die Menschen mit mir in Berührung kommen, werde ich ein Menschenfeind‹, sagte er. ›Und dabei wurde meine Liebe zur Menschheit bisher desto flammender, je mehr ich die einzelnen Menschen haßte.‹«

      »Was aber soll man tun? Was soll man in solchen Fällen tun? Muß man da nicht verzweifeln?«

      »Nein, es genügt schon, daß Sie sich darum sorgen. Tun Sie, was Sie können, und es wird Ihnen angerechnet werden. Sie haben schon viel dadurch getan, daß Sie sich selbst so tief und aufrichtig erkennen lernten! Sollten Sie aber jetzt nur deshalb so offen mit mir gesprochen haben, um wie jetzt ein Lob für Ihre Wahrheitsliebe zu empfangen, dann werden Sie es allerdings in den Großtaten der tätigen Liebe zu nichts bringen; dann wird das alles nur Träumerei für sie bleiben und Ihr ganzes Leben wird vorüberhuschen wie eine Vision. Dann werden Sie natürlich auch das künftige Leben vergessen und sich schließlich selbst auf irgendeine Weise beruhigen.«

      »Sie haben mich zerschmettert! Erst jetzt, während Sie sprachen, erkannte ich, daß ich tatsächlich nur gehofft habe, Sie würden mich loben für meine Offenheit, mit der ich erzählte, daß ich Undank nicht ertragen kann. Sie haben mir gesagt, wie es in mir aussieht! Sie haben mich ertappt und mir mein innerstes Wesen erklärt!«

      »Ist das die Wahrheit? Nun, nach einem solchen Bekenntnis glaube ich, daß Sie aufrichtig und von Herzen gut sind. Wenn Sie das Glück nicht erlangen sollten, so bleiben Sie dessen eingedenk, daß Sie auf gutem Wege sind, und hüten Sie sich, von ihm abzuweichen. Vor allem hüten Sie sich vor der Lüge, besonders vor sich selbst. Geben Sie acht auf Ihre Lüge, behalten Sie sie zu jeder Stunde, zu jeder Minute im Auge. Meiden Sie auch den Ekel vor anderen wie vor sich selbst. Was Ihnen an Ihrem Innern häßlich erscheint, wird allein schon dadurch, daß Sie es bemerkten, geläutert. Meiden Sie ferner die Furcht, obgleich sie nur eine Folge der Lüge ist. Erschrecken Sie, wenn Sie nach Liebe streben, nie über Ihren eigenen Kleinmut; erschrecken Sie nicht einmal allzusehr über die schlechten Handlungen, die Sie dabei begehen. Ich bedaure, daß ich Ihnen nichts Tröstlicheres sagen kann, denn die tätige Liebe ist im Vergleich zu der nur geträumten ein hartes, schreckliches Ding. Die träumerische Liebe dürstet nach einer Großtat, rasch ausgeführt und von allen gesehen. Es kommt so weit, daß man sogar sein Leben hingibt, nur wenn die Sache schnell erledigt wird und so, daß alle es sehen und loben – wie auf der Bühne. Die tätige Liebe dagegen ist Arbeit und Geduld; sie ist für manche Menschen gewissermaßen eine richtige Wissenschaft. Ich kann es Ihnen im voraus sagen: Sobald Sie mit Schrecken wahrnehmen, daß Sie all Ihrem Bemühen zum Trotz dem Ziel nicht nur nicht näher kamen, sondern sich scheinbar von ihm entfernten – in diesem selben Augenblick, das prophezeie ich Ihnen, werden Sie plötzlich das Ziel erreichen und deutlich Gottes wundertätige Kraft erkennen! Gott hat Sie die ganze Zeit geliebt, die ganze Zeit insgeheim geleitet. Verzeihen Sie, daß ich mich Ihnen nicht länger widmen kann; man erwartet mich. Auf Wiedersehen!«

      Die Dame weinte. »Bitte, segnen Sie Lisa, segnen Sie Lisa!« rief sie und sprang auf.

      »Die dürfte man eigentlich gar nicht liebhaben«, sagte der Starez scherzend. »Ich sah, wie sie die ganze Zeit dummes Zeug trieb. Warum haben Sie sich fortwährend über Alexej lustig gemacht?«

      Lisa hatte wirklich die ganze Zeit mit irgendwelchen Streichen ausgefüllt. Sie hatte schon das vorige Mal bemerkt, daß Aljoscha vor ihr verlegen wurde und sich nicht traute, sie anzusehen; das amüsierte sie gewaltig. Sie wartete aufmerksam und fing seinen Blick auf; Aljoscha hielt es nicht aus und sah ab und zu unwillkürlich, von einer unwiderstehlichen Macht gezwungen, zu ihr hin, worauf sie ihm dann sofort triumphierend ins Gesicht lachte. So wurde Aljoscha immer verlegener und ärgerte sich noch mehr. Zuletzt wandte er sich ganz von ihr ab und verbarg sich hinter dem Starez. Kurze Zeit später machte er, abermals unwiderstehlich angezogen, eine kleine Wendung, als wollte er sehen, ob sie ihn noch anschaute. Da bemerkte er, wie Lisa sich