drei Jahrhunderten, erschien das Christentum auf der Erde nur in Gestalt der Kirche und war nur Kirche. Als nun der heidnische römische Staat christlich zu werden wünschte, nahm er beim Übergang zum Christentum notwendigerweise die Kirche in sich auf, obgleich er in sehr vielen Einrichtungen ein heidnischer Staat blieb. Es mußte im Grunde auch so sein. Es war noch viel heidnische Kultur und Weisheit im römischen Staat zurückgeblieben, ja, heidnisch waren sogar die Grundlagen und Ziele des Staates. Die christliche Kirche aber konnte bei ihrem Eintritt in den Staat von ihren Grundlagen, von dem Stein, auf dem sie stand, nichts aufgeben. Sie konnte nur ihre eigenen Ziele verfolgen, die ihr der Herr gesetzt und gewiesen hatte, und die waren unter anderen, die ganze Welt, und folglich auch den ganzen alten heidnischen Staat, zur Kirche zu machen. Nicht die Kirche muß sich also künftig wie ›jede gesellschaftliche Vereinigung‹ oder wie eine ›Vereinigung von Menschen zu religiösen Zwecken‹ (um mit dem Autor, dem ich widerspreche, zu reden) einen Platz im Staat suchen, vielmehr muß in der Folgezeit jeder irdische Staat zur Kirche werden und nichts als Kirche sein; auf Ziele, die nicht mit den kirchlichen vereinbar sind, muß er verzichten. Das alles erniedrigt ihn durchaus nicht; es nimmt ihm weder seine Ehre noch seinen Ruhm als großer Staat, noch den Ruhm seiner Herrscher; es weist ihm nur statt des unrechten heidnischen Weges den richtigen und wahren Weg, den einzigen Weg zu den ewigen Zielen. Der Verfasser des Buches hätte also richtig geurteilt, wenn er die von ihm dargelegten Grundlagen als vorübergehenden, für unsere sündige, unreife Zeit noch unentbehrlichen Kompromiß betrachtet hätte. Wenn er sich aber erkühnt zu behaupten, die Grundlagen, die er dargelegt hat und die Vater Jossif uns teilweise aufzählte, seien unerschütterlich, elementar und ewig, so wendet er sich direkt gegen die Kirche und ihre heilige, ewige, unerschütterliche Bestimmung. Das ist mein ganzer Aufsatz, und das ist sein gesamter Inhalt.«
»Mit anderen Worten«, sagte wieder Vater Paissi, jede Silbe betonend, »die Kirche soll sich nach Theorien, die in unserem neunzehnten Jahrhundert entstanden sind, in den Staat umwandeln, gleichsam aus einer niederen Gestalt in eine höhere, um dann im Staat aufzugehen; sie soll der Wissenschaft, dem Zeitgeist und der Kultur einfach weichen. Will sie das nicht und sträubt sie sich, wird ihr zur Strafe eine Art Ecke inmitten des Staates angewiesen, auch das natürlich nur unter Aufsicht, wie es gegenwärtig überall in den westeuropäischen Ländern der Fall ist. Nach der russischen Vorstellung und Zuversicht soll sich jedoch nicht die Kirche in den Staat umwandeln wie aus der niederen in eine höhere Form, vielmehr soll der Staat zuletzt vollkommen in der Kirche aufgeben. Amen, das heißt: es soll also geschehen!«
»Nun, ich muß gestehen, Sie haben mich wieder ein wenig ermutigt«, sagte Miussow lächelnd und legte die Beine wieder anders. »Soweit ich verstehe, handelt es sich um die Verwirklichung eines fernen Ideals, bei der Wiederkunft Christi. Halten Sie es damit, wie Sie wollen. Ein schöner utopischer Traum vom Ende der Kriege, Diplomaten, Banken und so weiter. Das hat sogar einige Ähnlichkeit mit dem Sozialismus. Ich glaubte schon, das wäre alles ernst gemeint, und die Kirche sollte zum Beispiel gleich jetzt über kriminelle Verbrechen richten und ihre Angeklagten zu Durchpeitschung und Zuchthaus, vielleicht gar zum Tode verurteilen.«
»Gäbe es eine kirchlich-weltliche Gerichtsbarkeit, würde auch jetzt die Kirche nicht zu Zuchthaus oder zum Tode verurteilen. Das Verbrechen und die Ansichten darüber würden sich zweifellos ändern müssen, allmählich zwar, nicht mit einemmal, jedoch ziemlich schnell«, sagte Iwan Fjodorowitsch ruhig und ohne mit einer Wimper zu zucken.
»Meinen Sie das im Ernst?« fragte Miussow und starrte ihn unverwandt an.
»Wäre alles Kirche geworden, würde die Kirche den Verbrecher einfach ausschließen, ihm aber nicht den Kopf abschlagen«, fuhr Iwan Fjodorowitsch fort. »Nun frage ich Sie, wohin sollte der Ausgeschlossene gehen? Er müßte nicht nur von den Menschen, er müßte auch von Christus weggehen. Er hätte sich ja mit seinem Verbrechen auch gegen die Kirche aufgelehnt. Im Grunde ist das auch jetzt der Fall, doch wird es nicht deutlich ausgesprochen. Der Verbrecher von heute beruhigt sein Gewissen häufig durch Erwägungen wie diese: ›Ich bin zwar ein Dieb, doch kein Dieb an der Kirche. Ich bin kein Feind Jesu Christi!‹ das sagt sich heute jeder Verbrecher. Sobald aber die Kirche an die Stelle des Staates getreten ist, dürfte es schwer sein, so zu sprechen; es müßte denn der Verbrecher die Kirche der ganzen Erde verneinen und schlechthin behaupten: ›Es irren alle; alle sind vom rechten Wege abgewichen und bilden eine falsche Kirche; nur ich, der Mörder und Dieb, bin die wahre christliche Kirche.‹ Sich das zu sagen, ist aber doch schwer und nur in besonderen seltenen Fällen möglich. Nun nehmen Sie auf der anderen Seite die kirchliche Auffassung vom Verbrechen: Muß sie nicht wesentlich anders sein als die jetzige, beinahe heidnische? Und muß nicht die mechanische Abstoßung des kranken Gliedes, wie sie heute zum Schutz der Gesellschaft üblich ist, allmählich ersetzt werden durch die Idee einer Wiedergeburt des Menschen, seiner Auferstehung und seiner Rettung?«
»Was soll denn das heißen? Ich verstehe wieder nichts mehr!« unterbrach ihn Miussow. » Das ist wieder so eine Träumerei! Etwas Formloses, das kein Mensch versteht! Was heißt denn das: Ausschließung? Welch eine Ausschließung meinen Sie? Ich fürchte, Sie machen sich über uns lustig, Iwan Fjodorowitsch.«
»Eigentlich findet ja jetzt dasselbe statt«, begann auf einmal der Starez, zu dem sich sofort alle wandten. »Denn gäbe es jetzt keine Kirche Christi, so gäbe es für den Verbrecher kein Einhalten, nicht einmal eine Strafe für seine Tat – das heißt keine wirkliche, denn die mechanische, wie Sie sie nannten, regt doch meistens nur das Herz auf. Die einzig wirksame, abschreckende und friedenbringende Strafe liegt im Bewußtsein des eigenen Gewissens.«
»Gestatten Sie die Frage: Wie meinen Sie das‹?« fragte Miussow lebhaft interessiert.
»Ich meine es folgendermaßen«, entgegnete der Starez. »Alle Verbannungen zur Zwangsarbeit, zu denen früher noch Körperstrafen kamen, bessern niemand und schrecken keinen Verbrecher ab; denn die Zahl der Verbrechen vermindert sich nicht, sondern wächst immer mehr. Das müssen Sie zugeben. Infolgedessen ist die Gesellschaft auf diese Weise gar nicht geschützt; man sondert wohl ein schädliches Mitglied ab und verbannt es weit weg, daß es niemand mehr zu sehen bekommt, aber an seiner Stelle erscheint sogleich ein anderer Verbrecher, womöglich gar zwei. Wenn irgend etwas sogar in unserer Zeit die Gesellschaft schützt und den Verbrecher bessert und in einen anderen Menschen verwandelt, so allein das Gesetz Christi, das sich im Bewußtsein des eigenen Gewissens kundtut. Nur wer sich seiner Schuld als Sohn der Gemeinschaft Christi, das heißt der Kirche, bewußt ist, wird die Schuld auch vor der Gemeinschaft, das heißt vor der Kirche, bekennen. Nur vor der Kirche vermag der heutige Verbrecher seine Schuld zu bekennen, nicht vor dem Staat. Läge also die Gerichtsbarkeit in den Händen einer Gemeinschaft wie der Kirche, würde diese Gemeinschaft wissen, wen sie aus der Verbannung zurückzurufen und wiederaufzunehmen hat. Solange aber die Kirche keine tatsächliche Gerichtsbarkeit ausübt, sondern nur die Möglichkeit einer moralischen Verurteilung besitzt, solange hält sie sich von jeder tatsächlichen Bestrafung des Verbrechers fern. Sie schließt ihn nicht aus ihrer Mitte aus, sie verweigert ihm nicht ihren mütterlichen Trost. Ja mehr noch, sie bemüht sich sogar, die christliche Gemeinschaft mit dem Verbrecher in vollem Umfang aufrechtzuerhalten; sie läßt ihn zum Gottesdienst und zum Abendmahl zu, gibt ihm Almosen und verkehrt mit ihm wie mit einem Verblendeten, nicht wie mit einem Schuldigen. O Gott, was würde aus dem Verbrecher, wenn ihn die christliche Gemeinschaft, das heißt die Kirche, ebenso verstoßen würde wie das bürgerliche Gesetz? Was würde geschehen, wenn ihn die Kirche nach jeder Bestrafung durch das bürgerliche Gesetz auch ihrerseits mit Ausschluß aus der Gemeinschaft bestrafen würde? Eine größere Strafe für den russischen Verbrecher wäre nicht denkbar, denn die russischen Verbrecher sind noch gläubig. Doch wer weiß, vielleicht würde dann etwas Furchtbares eintreten? Vielleicht würde das verzweifelte Herz des Verbrechers den Glauben verlieren – und was dann? Als zärtliche, liebende Mutter hält sich die Kirche von einer tatsächlichen Bestrafung fern, da der Schuldige ohnehin durch das staatliche Gericht schon schwer gestraft ist und einer ihn doch bemitleiden muß. Der Hauptgrund aber, weshalb sich die Kirche fernhält, ist, daß das Gericht der Kirche als einziges die Wahrheit in sich einschlieft und es sich deshalb mit keinem anderen Gericht materiell und moralisch vereinbaren läßt, auch nicht vorübergehend. Auf Kompromisse kann man sich nicht einlassen. Der ausländische Verbrecher, sagt man, bereut nur selten, bestärken