Федор Достоевский

Die Brüder Karamasow


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mit der Truppe. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, ließ den Blick über die Anwesenden gleiten und ging dann direkt auf den Starez zu, in dem er den Hausherrn erkannt hatte. Nachdem er sich tief verbeugt hatte, bat er um den Segen. Der Starez erhob sich und segnete ihn. Dmitri Fjodorowitsch küßte ihm respektvoll die Hand und sagte dann erregt, fast heftig: »Verzeihen Sie großmütig, daß ich so lange auf mich warten ließ. Der Diener Smerdjakow, den mein Vater zu mir schickte, antwortete auf meine Frage nach der Zeit zweimal auf das bestimmteste, die Zusammenkunft finde um ein Uhr statt. Jetzt höre ich auf einmal ...«

      »Beunruhigen Sie sich nicht!« unterbrach ihn der Starez. »Das macht nichts. Sie haben sich ein wenig verspätet, das ist kein Unglück ...«

      »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar und konnte auch von Ihrer Güte nichts anderes erwarten.«

      Nach diesen kurz herausgestoßenen Worten verbeugte sich Dmitri Fjodorowitsch noch einmal vor dem Starez und wandte sich dann zum Vater, um auch vor ihm sich ebenso respektvoll und tief zu verbeugen. Es war klar, daß er diese Verbeugung von vornherein beabsichtigt und sie aufrichtig gemeint hatte; er hielt es einfach für seine Pflicht, auf diese Weise seinen Respekt und seine guten Absichten auszudrücken. Fjodor Pawlowitsch machte diese Überraschung verlegen, doch fand er sich sofort auf seine Art wieder zurecht: Er sprang von seinem Lehnstuhl auf und verbeugte sich ebenso tief vor seinem Sohn. Sein Gesicht wurde plötzlich vielsagend ernst, was außerordentlich böse wirkte. Darauf begrüßte Dmitri Fjodorowitsch alle anderen Anwesenden mit einer allgemeinen Verbeugung, ging mit seinen großen, festen Schritten zum Fenster und setzte sich dort auf den einzigen noch freigebliebenen Stuhl, nicht weit von Vater Paissi. Er saß mit vorgebeugtem Oberkörper, bereit, die Fortsetzung des durch ihn unterbrochenen Gespräches mit anzuhören.

      Die Störung hatte kaum zwei Minuten gewährt, und man konnte nicht umhin, das Gespräch wiederaufzunehmen. Doch Pjotr Alexandrowitsch hielt es jetzt nicht für nötig, auf Vater Paissis nachdrückliche, beinahe gereizte Frage zu antworten.

      »Gestatten Sie mir, die weitere Erörterung dieses Themas abzulehnen«, sagte er mit einer gewissen weltmännischen Lässigkeit. »Das Thema ist ohnehin besonders schwierig. Sehen Sie, Iwan Fjodorowitsch lächelt. Offenbar hat er bei dieser Gelegenheit etwas Interessantes vorzubringen. Fragen Sie lieber ihn!«

      »Ich habe nichts Besonders zu sagen«, antwortete Iwan Fjodorowitsch. »Ich wollte nur die kurze Bemerkung machen, daß der westeuropäische Liberalismus und sogar unser russischer liberaler Dilettantismus seit längerer Zeit die Endziele des Sozialismus des öfteren mit denen des Christentums verwechselt. Dieser Fehlschluß ist allerdings charakteristisch. Übrigens schienen nicht nur die Liberalen und die Dilettanten den Sozialismus mit dem Christentum zu verwechseln, sondern vielfach auch die Gendarmen, natürlich die ausländischen. Ihr Pariser Geschichtchen ist sehr bezeichnend, Pjotr Alexandrowitsch.«

      »Ich bitte nochmals um die Erlaubnis, dieses Thema verlassen zu dürfen«, wiederholte Pjotr Alexandrowitsch. »Statt dessen will ich Ihnen ein anderes hochinteressantes und charakteristisches Geschichtchen über Iwan Fjodorowitsch selbst erzählen meine Herren. Vor fünf Tagen erklärte er bei einem Disput in einer hiesigen, vorwiegend aus Damen bestehenden Gesellschaft nachdrücklich, es gebe auf der ganzen Erde nichts, was die Menschen zwingen könne, ihresgleichen zu lieben. Ein Naturgesetz, das dem Menschen befehle, die Menschheit zu lieben, existiere überhaupt nicht. Wenn es auf Erden Liebe gebe oder gegeben habe, so sei das nicht die Folge eines Naturgesetzes, sondern lediglich des Umstandes, daß die Menschen an die Unsterblichkeit glauben. Iwan Fjodorowitsch fügte in Klammern hinzu, eben darin bestehe das ganze Naturgesetz, so daß die Menschheit, raubt man ihr den Glauben an die Unsterblichkeit, sofort die Liebe und jede lebendige Kraft zur Fortführung des irdischen Lebens verliere. Ja noch mehr, es gebe dann nichts Unsittliches mehr; alles sei dann erlaubt, sogar die Menschenfresserei. Aber auch das genügte ihm nicht; er schloß mit der Behauptung, für jede Privatperson, die weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glaube, zum Beispiel für uns jetzt, verwandle sich das sittliche Naturgesetz sofort in das Gegenteil. Der Egoismus, gesteigert bis zum Verbrechen, müsse dem Menschen dann erlaubt und sogar als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg aus einer schwierigen Lage anerkannt werden. Aus einem solchen Paradoxon können Sie, meine Herren, auf das übrige schließen, was dieser exzentrische Freund von Paradoxen, unser lieber Iwan Fjodorowitsch, zu proklamieren beliebt.«

      »Erlauben Sie«, rief plötzlich Dmitri Fjodorowitsch, »ich möchte doch feststellen, ob ich mich nicht verhört habe! ›Das Verbrechen muß erlaubt sein und für jeden Atheisten sogar als unvermeidlicher, vernünftigster Ausweg aus einer schwierigen Lage anerkannt werden.‹ War es nicht so?«

      »Genauso«, sagte Vater Paissi.

      »Das will ich mir merken.«

      Nach diesen Worten verstummte Dmitri Fjodorowitsch ebenso plötzlich, wie er sich vorher ins Gespräch gemischt hatte. Alle blickten ihn neugierig an.

      »Glauben Sie wirklich, daß dies die Folgen wären, wenn die Menschen den Glauben an die Unsterblichkeit ihrer Seelen verlieren würden?« fragte der Starez Iwan Fjodorowitsch.

      »Ja, das behaupte ich. Es gibt keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.«

      »Gesegnet sind Sie, wenn Sie das glauben! Oder aber sehr unglücklich!«

      »Warum unglücklich?« fragte Iwan Fjodorowitsch lächelnd.

      »Weil Sie selbst wahrscheinlich ebensowenig an die Unsterblichkeit Ihrer Seele glauben wie an das, was Sie über die Kirche und die Kirchenfrage geschrieben haben.«

      »Vielleicht haben Sie recht! Es war aber doch nicht nur Scherz von mir ...«, gestand Iwan Fjodorowitsch dann merkwürdigerweise, dabei überzog eine flüchtige Röte sein Gesicht.

      »Es war nicht nur Scherz, das ist richtig. Dieser Gedanke ist in Ihrem Herzen noch nicht zur Klarheit gelangt und quält das Herz. Aber auch der Gequälte treibt zuweilen gern mit seiner Verzweiflung Kurzweil, gewissermaßen wiederum aus Verzweiflung. Vorläufig treiben auch Sie aus Verzweiflung Kurzweil, wenn Sie für Monatsschriften Aufsätze verfassen und in weltlichen Gesellschaften disputieren, während Sie selber nicht an Ihre Dialektik glauben, ja sogar mit wehem Herzen heimlich darüber lächeln ... In Ihrem Innern ist diese Frage noch ungelöst, und darin besteht Ihr großer Kummer; denn sie verlangt gebieterisch eine Lösung ...«

      »Aber kann sie denn in meinem Innern gelöst werden? Gelöst in bejahendem Sinne?« fragte Iwan Fjodorowitsch weiter, wobei er den Starez fortwährend mit einem unerklärlichen Lächeln anblickte.

      »Kann sie nicht in bejahendem Sinne gelöst werden, so wird sie auch niemals verneinend gelöst! Diese Eigenheit Ihres Herzens kennen Sie selbst, und darin besteht seine ganze Qual. Aber danken Sie dem Schöpfer, daß er Ihnen ein edleres Herz gab, das nicht nur fähig ist, solche Qual zu ertragen, sondern auch über das, was droben ist, nachzudenken und nach dem, was droben ist, zu trachten; denn unser Leben ist im Himmel. Gebe Gott, daß Ihr Herz die Lösung dieser Frage noch auf Erden finde, und segne Gott Ihre Wege!«

      Der Starez hob die Hand und schickte sich an, Iwan Fjodorowitsch von seinem Platz aus zu bekreuzen. Der jedoch stand plötzlich auf, trat zu ihm, empfing den Segen, küßte ihm die Hand und kehrte schweigend auf seinen Platz zurück. Sein Gesichtsausdruck war fest und ernst. Dieses Auftreten, und das vorhergehende Gespräch mit dem Starez, das man von Iwan Fjodorowitsch nie erwartet hätte, machte in seiner Rätselhaftigkeit und Feierlichkeit auf alle starken Eindruck; auf Aljoschas Gesicht lag etwas wie Schrecken. Dann zuckte Miussow plötzlich mit den Achseln, und Fjodor Pawlowitsch sprang im selben Augenblick von seinem Stuhl auf.

      »Göttlicher, heiliger Starez!« rief er und zeigte auf Iwan Fjodorowitsch. »Das ist mein Sohn, Fleisch von meinem Fleische, Fleisch, das mir lieb ist! Das ist mein respektvollster, ich möchte sagen, Karl Moor! Der aber, mein Sohn Dmitri Fjodorowitsch, der eben hereinkam und gegen den ich bei Ihnen Recht suche, das ist ein ganz respektloser Franz Moor! Beides Personen aus Schillers ›Räubern‹, und ich selbst bin der regierende Graf Moor! Richten Sie, retten Sie! Wir brauchen nicht nur Ihre Gebete, sondern auch Ihr prophetisches Urteil!«

      »Sprechen