F. Scott Fitzgerald

Der große Gatsby


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      Der große Gatsby

      F. Scott Fitzgerald

      Inhaltsverzeichnis

       I

       II

       III

       IV

       V

       VI

       VII

       VIII

       IX

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       I

      In meinen jüngeren Jahren, als ich noch zarter besaitet war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir seitdem wieder und wieder durch den Kopf gegangen ist.

      »Bedenke«, sagte er, »wenn du an jemand etwas auszusetzen hast, daß die meisten Menschen es im Leben nicht so leicht gehabt haben wie du.«

      Weiter sagte er nichts, aber da wir uns auf eine scheue Art immer ungewöhnlich gut verstanden, begriff ich, daß er damit sehr viel mehr gemeint hatte. Daher neige ich dazu, mit meinem Urteil zurückzuhalten, eine Gewohnheit, die mir viele interessante Menschen erschlossen hat, mich aber auch nicht selten routinierten Schwätzern auf den Leim gehen ließ. Überdurchschnittliche Geister wittern diese Eigenschaft rasch bei einem normalen Menschen und klammern sich daran. So kam es, daß man mich schon auf dem College zu Unrecht für einen ehrgeizigen Intriganten hielt, weil ich in den heimlichen Kummer irgendwelcher Unbekannter, denen man alles mögliche zutraute, eingeweiht war. Meist kam es ohne mein Zutun zu solchen Geständnissen – oft stellte ich mich schlafend oder geistesabwesend, oder ich gab mich boshaft und leichtfertig, wenn ich aus untrüglichen Anzeichen merkte, daß eine vertrauliche Enthüllung im Anzuge sei. Denn gewöhnlich sind bei jungen Menschen solche vertraulichen Enthüllungen oder zumindest die Worte, in denen sie sich äußern, nicht ihr eigenes Gewächs und obendrein durch offensichtliche Komplexe entstellt. Sich des Urteils enthalten heißt, unbegrenzt hoffen. Dennoch wäre, fürchte ich, nicht alles gesagt, wenn ich verschwiege, was mein Vater mit 5 einigem Dünkel zu verstehen gab und was ich hier nicht minder dünkelhaft wiederhole – daß nämlich nicht jeder in der Wiege die gleiche Portion Taktgefühl mitbekommen hat.

      Nachdem ich mich so mit meinem toleranten Wesen gebrüstet habe, muß ich gestehen, daß diese Toleranz auch ihre Grenzen hat. Das Tun und Lassen eines Menschen kann felsenfest begründet sein oder aus sumpfigen Niederungen wachsen. Wenn aber ein gewisser Punkt überschritten ist, kümmert mich diese Grundlage nicht mehr. Als ich vorigen Herbst aus dem Osten zurückkam, hätte ich am liebsten die Welt in eine Uniform gesteckt und sozusagen für immer moralisch strammstehen lassen. Ich hatte genug von den turbulenten Exkursionen und dem Privileg, hie und da einen Blick in das menschliche Herz zu erhaschen.

      Einzig und allein Gatsby, der Mann, der diesem Buch den Namen gibt, machte darin für mich eine Ausnahme – Gatsby, der Inbegriff all dessen, was ich aus tiefster Seele verachte. Wenn allerdings Persönlichkeit nur eine ununterbrochene Kette großartiger Gesten ist, dann ging von ihm etwas Strahlendes aus, eine hochgradige Empfindlichkeit für die Verheißungen des Lebens, als hätte er Kontakt mit einem jener verzwickten Instrumente, die auf zehntausend Meilen ein Erdbeben registrieren. Diese Sensibilität hatte nichts mit der läppischen Aufgeschlossenheit zu tun, der man den Namen schöpferisches Temperament umgehängt hat – es war eine ungewöhnliche Begabung, immer etwas zu erhoffen, eine romantische Bereitschaft, wie ich sie bei keinem Menschen sonst gefunden habe und wohl nie wieder finden werde. Nein – Gatsby ging am Ende untadelig aus allem hervor. Aber was ihm auf den Fersen war, der widerliche Dunst, der seine Träume umspielte, stieß mich 6 ab und lähmte zeitweise mein Interesse für die kümmerlichen Fehlschläge und kurzatmigen Aufschwünge der Menschen.

      Meine Familie sitzt seit drei Generationen hier in dieser Stadt im Mittelwesten – angesehene, gutsituierte Leute. Die Carraways haben etwas von einem Klan; es heißt, wir stammten vom Herzog von Buccleuch ab, doch der eigentliche Gründer meiner Linie war der Bruder meines Großvaters, der im Jahre herkam, im Bürgerkrieg einen Ersatzmann stellte und den Eisenwarengroßhandel eröffnete, den mein Vater heute noch fortführt.

      Ich habe diesen Großonkel nicht gekannt; man sagt aber, ich sei ihm sehr ähnlich, und beruft sich dabei besonders auf das nachgerade altbackene Ölbild, das in Vaters Büro hängt. Ich machte 1915, genau ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, in New Haven Examen und sah mich bald darauf als Teilnehmer jener verspäteten germanischen Völkerwanderung, auch bekannt unter dem Namen: der Große Krieg. Ich genoß den Feldzug so gründlich, daß ich danach nicht wieder zur Ruhe kam. Der Mittelwesten erschien mir nicht mehr als wärmender Weltmittelpunkt, sondern als die schartige Peripherie des Universums. Daher beschloß ich, nach Osten zu gehen und mich im Börsenhandel umzutun. Wen ich auch kannte – alle handelten mit Wertpapieren, was mich zu der Annahme verleitete, dieses Geschäft könne wohl auch noch einen mehr ernähren. Meine Onkel und Tanten besprachen die Angelegenheit, als gelte es, mich auf eine Klippschule zu schicken. Sie setzten eine gewichtige Miene auf und sagten schließlich zögernd »Ja-a, warum nicht«. Vater fand sich bereit, mich für ein Jahr zu finanzieren, und so kam ich im Frühjahr 1922, nachdem die Sache mehrmals vertagt worden war, nach New York – für immer, wie ich 7 dachte.

      Praktisch ging es zunächst darum, eine Wohnung in der Stadt zu finden. Aber es war schon heiß, und ich kam aus einer ländlichen Gegend mit viel Grün und freundlichen Bäumen. Als daher ein junger Mann im Büro mir vorschlug, gemeinsam ein Häuschen in einem Vorort zu mieten, schien mir das ein grandioser Einfall. Er fand auch das Haus, einen windschiefen gebrechlichen Bungalow für achtzig Dollar im Monat. Doch plötzlich beorderte ihn die Firma nach Washington, und ich zog allein aufs Land. Ich besaß – wenigstens die paar Tage, bis er mir davonlief – einen Hund, ferner einen alten Dodge und ein finnisches Weib, das mein Bett machte und, über dem elektrischen Kocher finnische Sprüche murmelnd, das Frühstück bereitete. Einen Tag oder länger war es ganz einsam, bis mich eines Morgens auf der Straße ein Mann ansprach, der noch kürzer da war als ich.

      »Wie kommt man nach West Egg?« fragte er ratlos. Ich gab ihm Auskunft, und im Weitergehen kam ich mir nicht mehr so verloren vor. Ich war ein Pionier, ein Pfadfinder, ein echter Ansiedler. Unwillkürlich hatte dieser Mann mir das Bürgerrecht in dieser Gegend verliehen.

      So wandelte mich denn, indes die Sonne schien, die Bäume gewaltig ausschlugen und die Blätter sich im Zeitraffer entfalteten, das bekannte Gefühl an, mit diesem Sommer beginne das Leben wieder einmal ganz von vorne.

      Da war erstens so vieles, was ich lesen wollte, und dann so viel gesunde Kraft, die man nur mit der jungen frischen Atemluft einzuziehen brauchte. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über Bank- und Kreditwesen und über sichere Kapitalanlagen. Die standen gleichsam frischgemünzt in Rot und Gold auf meinem Bücherbord und versprachen, mich in die fabelhaften Geheimnisse einzuweihen, die vor 8 mir nur ein Midas, ein Morgan oder Maecenas ergründet hatten. Außerdem hatte ich mir fest vorgenommen, noch vieles andere zu lesen. Schon auf dem College hatte ich mich literarisch hervorgetan und ein Jahr lang für Yale News geschwollene und triviale Leitartikel geschrieben. Indem ich mich all dieser Dinge erinnerte und sie in meinem Leben unterzubringen suchte, war ich im Begriff, mich wiederum