Johanna Spyri

Heidi


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wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der Alm-Öhi.“

      „Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?“, fragte gespannt die Bärbel.

      „Wart’ nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen“, erklärte Dete. „Der Tobias war in der Lehre und als er fertig war, nahm er meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt. Sie lebten sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, als der Tobias an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Die Adelheid bekam vor Schrecken und Leid heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen. Sie war ohnehin nicht sehr kräftig. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch sie. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben, und der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen. Aber er wurde grimmig und verstockt und redete mit niemand mehr. Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seitdem ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Als nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel in Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich. zu nähen und zu flicken verstehe, und im Frühling kamen die Leute aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr kennengelernt hatte und die mich mitnehmen wollen. Übermorgen reisen wir ab.“

      »Mich wundert, was du denkst, Dete“, sagte die Bärbel vorwurfsvoll.

      »Was soll ich denn mit dem Kind machen? Ich denke, ich kann eins, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Bärbel? Wir sind ja schon halbwegs auf der Alm“,

      »Ich bin auch gleich da, wo ich hin muss“, entgegnete die Bärbel. »Ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt für mich. So Leb’ wohl!“

      Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese auf die dunkelbraune Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschützt war.

      Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, damit sie da die kurzen, kräftigen Kräuter abfressen konnten. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Beruf gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann die Geißenpeterin genannt, und die blinde Großmutter kannten weit und breit alt und jung nur unter dem Namen Großmutter.

      Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert. Auf einmal setzte es sich auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, legte sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen und reckte die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter her. So langten endlich die Kinder samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: »Heidi, -was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft für den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles ist fort!“

      Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter: „Dort!“ Die Dete folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas, und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.

      „Ich brauch’ es nicht“, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.

      »Ach, du unglückseliges, vemunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?“, jammerte und schalt die Tante. »Wer soll nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol’ das Zeug!“

      Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Tante loben musste.

      „Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja auch den Weg“, sagte die Dete jetzt. Willig übernahm der Bub den Auftrag. Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhis stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte befanden sich drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.

      Auf einer Bank saß der Öhi, eine Pfeife im Mund, bade Hände auf seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Dete herankletterten. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Guten Tag, Großvater!“

      Der Alte gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an. Heidi gab den Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war verwunderlich anzusehen.

      „Ich wünsche dir guten Tag, Öhi“, sagte nun die Dete, „und hier bring’ ich das Kind vom Tobias und der Adelheid.“

      „So, was soll das Kind bei mir?“, fragte der Alte kurz. „Und du dort“, rief er dem Peter zu, „du kannst gehen mit deinen Geißen!“ Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte.

      „Es muss eben bei dir bleiben, Öhi“, gab die Dete auf seine Frage zurück. „Ich habe, denk’ ich, das Meine an ihm getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an dir sein, das Deine auch einmal zu tun.“ „So“, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. „Und wenn nun das Kind anfängt dir nachzuflennen, was muss ich dann mit ihm anfangen?“

      „Das ist deine Sache“, gab die Dete zurück. „Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und du bist der Nächste für das Kind.“

      Die Dete hatte kein gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie sehr erregt geworden. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich, dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: „Mach’, dass du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig’ dich nicht so bald wieder!“

      Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen, „So leb wohl, und du auch, Heidi“, sagte sie schnell und lief den Berg hinunter.

      Beim Großvater

      Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts darin. Das Kind setzte seine Untersuchung fort und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die andere Ecke der Hütte herum und kam vom wieder zum Großvater zurück:

      „Was willst du jetzt tun?“, fragte er, als das Kind vor