Johanna Spyri

Heidi


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„ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen da oben! Wie sieht es auch aus, Brigitte?“

      „Es ist fein gegliedert, wie die Adelheid war“, gab sie zur Antwort, „aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den zweien gleich.“

      Unterdessen war Heidi nicht müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: „Sieh, Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er wieder festhält.“

      „Ach, du gutes Kind“, sagte die Großmutter, „sehen kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl. Es kracht und klappert überall, wenn der Wind kommt. Es hält nichts mehr zusammen, und in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle drei tot. Ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte an der Hütte; der Peter versteht’s nicht.“

      „Aber warum kannst du denn nicht sehen, Großmutter? Sieh, jetzt wieder, dort, gerade dort!“ Und Heidi zagte die Stelle deutlich mit dem Finger.

      „Ach, Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts mehr“, klagte die Großmutter.

      Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es fortwährend: „Wer kann dir denn helfen? Kann es gar niemand?“ Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr nicht so bald.

      Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke, und es fing an von seinem Leben mit dem Großvater und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem Großvater zu erzählen. Die Großmutter hörte mit großer Aufmerksamkeit zu.

      Mit einemmal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter. Als er das Heidi erblickte, schnitt er die aller freundlichste Grimasse:

      „Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt?“, rief die Großmutter ganz verwundert aus; „so geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?“

      „Gleich“, gab der Peter zur Antwort.

      „So, so“, sagte die Großmutter ein wenig seufzend, „ich habe gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung.“

      „Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?“, fragte Heidi gleich mit Interesse.

      „Ich meine nur, dass er das Lesen noch hätte lernen können“, sagte die Großmutter. „Ich habe dort oben auf dem Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch nicht mehr; nun habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so könne er mir manchmal ein gutes Lied vorlesen. Aber es ist ihm zu schwer.“

      „Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel“, sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte: „der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich’s merkte.“

      Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: „Gut’ Nacht, Großmutter, ich muss heim, wenn es dunkel wird“.

      Die Großmutter rief besorgt: „Wart’, wart’, Heidi; so allein sollst du nicht fort, der Peter muss mit dir, hörst du?“

      Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Großvater kommen. Er packte das Kind wieder fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg hinauf.

      Sobald sie oben angekommen waren, sagte das Heidi: „Großvater, morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden festmachen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr.“

      Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte sagte: „Ja, Heidi, wir wollen dafür sorgen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter.“

      Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte das Kind vor die Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte: „Nun geh hinein, und wenn’s Nacht wird, komm wieder!“ Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: „Da kommt das Kind!“ Heidi lief zu ihr und rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe an sie heran. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge am Haus, dass die Großmutter vor Schrecken zusammenfuhr und zitternd ausrief: „Ach, du mein Gott, jetzt fällt alles zusammen!“ Aber Heidi sagte tröstend: „Nein, nein, Großmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer; jetzt macht er alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird.“

      „Ach, ist so etwas möglich!“ rief die Großmutter aus. „Hast du’s gehört, Brigitte? Geh hinaus, und wenn es der Alm-Öhi ist, so sag’ ihm, er soll doch dann einen Augenblick hereinkommen, dass ich ihm danken kann.“

      Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer Gewalt neue Kloben in die Mauer ein; Brigitte trat an ihn heran und sagte: „Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und wir haben zu danken, dass du uns einen solchen Dienst erweist…“ „Mach’s kurz“, unterbrach sie der Alte; „was ihr vom Alm-Öhi haltet, weiß ich schon. Geh nur wieder hinein: wo’s fehlt, find’ ich selber.“

      Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte weiter, bis er auch den letzten Nagel angeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen und kaum hatte er seinen Schlitten hinter dem Geißenstall hervorgezogen, als auch das Heidi aus der Tür trat.

      So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen, und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere. Vom frühen Morgen an lauschte sie auf den trippelnden Schritt, und ging die Tür auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude: „Gottlob, da kommt’s wieder!“ Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass der Großmutter die Stunden dahingingen, ohne dass sie es merkte.

      Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag hindurch an dem Geißenpeterhäuschen herumklopft. Es krachte und klapperte nun nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen können. Das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.

      Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi war glücklich und froh und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage.

      Als Heidi an einem sonnigen Märzmorgen hin- und herrannte und jetzt wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem alten schwarzen Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Er aber sagte freundlich: „Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?“

      „Er sitzt am Tisch und schnitzt“, berichtete Heidi und machte nun die Tür wieder auf.

      Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war. Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: „Guten Morgen, Nachbar!“

      Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand auf und entgegnete: „Guten Morgen dem Herrn Pfarrer!“ Dann stellte er seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: „Wenn der Herr Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier