Johanna Spyri

Heidi


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      „Heidi, geh zu den Geißen“, sagte der Großvater. Heidi verschwand sofort.

      „Das Kind hätte schon vor einem Jahr, aber bestimmt in diesem Winter die Schule besuchen sollen“, sagte nun der Herr Pfarrer.

      „Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken“, war die Antwort.

      Verwundert schaute der Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig aussah. „Was willst du aus dem Kinde machen?“, fragte jetzt der Herr Pfarrer.

      „Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei denen ist es ihm wohl, und es lernt nichts Böses von ihnen.“ „Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Dieses war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es zur Schule, und zwar jeden Tag.“

      „Ich tu’s nicht, Herr Pfarrer“, sagte der Alte unentwegt.

      „Meinst du denn wirklich, es gebe kein Mittel, dich zur Vernunft zu bringen, wenn du so eigensinnig bei deinem unvernünftigen Tun beharren willst?“, sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. „Du bist weit in der Welt herumgekommen und hast viel gesehen und vieles lernen können; ich hätte dir mehr Einsicht zugetraut, Öhi.“ „So“, sagte jetzt der Alte, und seine Stimme verriet, dass es auch in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war, „und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn’s manchmal tobt und tut, dass unsereiner fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie war auch so zart. Es soll mir keiner kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!“

      „Du hast ganz recht, Nachbar“, sagte der Herr Pfarrer freundlich; „es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist dir lieb, tu um seinetwillen etwas, komm wieder ins Dörfli herunter, und leb wieder mit den Menschen! Was ist das für ein Leben hier oben allein und verbittert gegen Gott und Menschen!“

      Der Alm-Öhi entgegnete fest und bestimmt: „Der Herr Pfarrer meint es echt mit mir; aber was er erwartet, das tu’ ich nicht, das Kind schick’ ich nicht, und herunter komm’ ich auch nicht.“

      „So helf dir Gott!“ sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Tür hinaus und den Berg hinunter.

      Noch bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Tür herein: Es war die Dete. Sie hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf, und ein sehr modernes Kleid an. Der Öhi schaute sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Dete wollte ein sehr freundliches Gespräch führen und sagte, auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen. Furchtbar reiche Leute in Frankfurt hätten ein einziges Töchterchen, das müsse immer im Rollstuhl sitzen und hätte gern eine Gespielin im Haus. Die Dame des Hauses habe nun gesagt, sie wolle so ein recht unverdorbenes Kind, das nicht sei wie alle. Da habe sie, die Dete, auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen und habe alles beschrieben vom Heidi und von seinem Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein Mensch wissen, was dem Heidi an Glück bevorstehe.

      „Bist du bald fertig?“, unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein Wort dazwischengeredet hatte.

      „Pah“, gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, „du tust gerade, als wenn ich das ordinärste Zeug gesagt hätte, und weit und breit ist doch nicht einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich dir gebracht habe.“

      „Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon“, sagte der Öhi trocken.

      Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: „Ja, so will ich sagen, wie ich es meine: das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und weiß nichts, und du willst es in keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind. Ich hab’ es zu verantworten.“

      „Schweig!“ donnerte der Öhi. „Nimm’s und verdirb’s! Komm mir nie mehr vor die Augen mit ihm, ich will’s nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im Mund wie dich heut’!“ Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.

      „Du hast den Großvater bös gemacht“, sagte Heidi und blitzte mit seinen schwarzen Augen die Tante wenig freundlich an.

      „Er wird schon wieder gut, komm jetzt“, drängte die Dete,

      „Ich komme nicht“, sagte Heidi.

      „Was sagst du?“, fuhr die Dete auf. „Sei doch nicht so dumm und störrisch wie eine Geiß! Du hast’s gehört, dass der Öhi gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor die Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst.“

      „Kann ich auf der Stelle wieder umkehren und heimkommen Heut’ Abend?“, fragte Heidi.

      „Du kannst wieder heim, wann du willst. Heut’ gehen wir bis nach Mayenfeld hinunter, und morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, und mit der bist du nachher im Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen.“ Die Dete hatte Heidi an die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.

      An der Geißenpeterhütte sagte Heidi bestimmt: „Ich muss der Großmutter Bescheid geben, damit sie nicht auf mich wartet.“

      Aber gerade das wollte die Base nicht und beschwichtigte das Kind, es sollte jetzt nur schnell kommen, dass sie nicht noch zu spät kämen. Es könnte ja dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, so dass es gar nie mehr fort wolle von dort. Und wenn es doch heim wolle, so könne es ja gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die ihm gefiel. Ohne Widerstreben ging es nun mit.

      „Was kann ich der Großmutter heimbringen?“, fragte es nach einer Weile.

      „Etwas Gutes“, sagte die Tante, „so schöne, weiche Weißbrötchen, da wird sie Freud’ haben daran; sie kann ja doch das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen.“

      „Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: ‚Es ist mir zu hart’; das habe ich selber gesehen“, bestätigt das Heidi. „So wollen wir geschwind gehen, dann kommen wir vielleicht heut’ noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin mit den Brötchen.“

      Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es so rasch ging.

      Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: „Ach, mit dem Kind ist alles Gute und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur noch einmal das Heidi hören könnte eh’ ich sterben muss!“

      Im Hause Sesemann in Frankfurt saß das kranke Töchterlein in dem bequemen Rollstuhl. Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren. Mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme fragte das Mädchen: „Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?“

      Fräulein Rottenmeier führte schon seit mehreren Jahren die Wirtschaft und hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal Herr Sesemann und Frau waren als Künstler auf Reisen, überließen daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass das Töchterchen in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen Wunsch geschehen dürfe.

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