sprechen.
Grundlage für die hier ausgewählten Tagebuchtexte ist die weltweit verbindliche Lesebuchausgabe des Fischer Verlags Anne Frank Tagebuch (1991), aus dem Niederländischen übersetzt von der 2019 verstorbenen Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler.
Zu Textauswahl und Aufbau
Es handelt sich um eine Auswahl von 33 Tagebuchtexten. Die Texte sind so gewählt, dass darin die wichtigen Themen des Tagebuchs vorkommen. Manchmal wurde leicht gekürzt. Wenn eine längere Passage weggelassen wurde, ist dies mit (…) gekennzeichnet.
Jeweils am Seitenende werden mit Sternchen markierte Wörter erklärt.
Zu den grau markierten Begriffen gibt es auf den Seiten 94–98 Informationen zur Zeitgeschichte.
Anne Frank verwendet im Tagebuch viele Präteritumformen. Die unregelmäßigen Formen befinden sich alphabetisch geordnet auf den Seiten 99–101.
Zusätzlich gibt es zu den Texten Übungen zum Leseverstehen ab Seite 102 und dazu Lösungen auf Seite 119/120. Die Übungen sind mit diesem Symbol gekennzeichnet:
ÜbungenText 1
Ich beginne mit dem Augenblick, als ich dich bekommen habe. Das heißt, als ich dich auf meinem Geburtstagstisch gesehen habe (beim Kaufen war ich auch dabei, aber das zählt nicht).
Am Freitag, dem 12. Juni, war ich schon um sechs Uhr wach. Das ist doch klar! Ich hatte schließlich Geburtstag. Aber um sechs Uhr durfte ich noch nicht aufstehen, auch wenn ich schrecklich neugierig war. Bis Viertel vor sieben habe ich gewartet. Länger habe ich es nicht geschafft. Ich lief ins Esszimmer. Da begrüßte mich gleich unsere Katze Moortje mit einem Salto1.
Kurz nach sieben ging ich zu Papa und Mama und dann ins Wohnzimmer. Dort wollte ich meine Geschenke auspacken. Zuerst sah ich dich und du bist wohl eines von meinen schönsten Geschenken. Es gab viele Blumen. Von Papa und Mama habe ich eine blaue Bluse bekommen, ein Spiel, eine Flasche Traubensaft, die nach Wein schmeckt (klar, Wein ist ja aus Trauben), ein Puzzle, Creme, Geld und einen Gutschein2 für zwei Bücher. Da war noch ein Buch, aber das hat Margot schon. Darum habe ich es getauscht. Dann gab es noch Kekse3, die ich selbst gebacken habe (das kann ich nämlich zurzeit sehr gut), viele Süßigkeiten und eine Erdbeertorte4 von Mutter. Von Omi gab es einen Brief, der ganz pünktlich kam, aber das ist natürlich ein Zufall.
Meine Freundin Hanneli holte mich ab. Wir gingen zur Schule. In der Pause verteilte ich Butterkekse an die Lehrer und Schüler. Dann haben wir wieder gearbeitet.
Ich kam erst um fünf Uhr nach Hause, weil ich noch beim Sport war (obwohl ich nie mitmachen darf, weil ich mir leicht Arme und Beine verletze). Für meine Mitschüler habe ich Volleyball als Geburtstagsspiel ausgesucht. Sanne war schon da. Ilse, Hanneli und Jacqueline sind mit mir gekommen. Hanneli und Sanne waren früher meine besten Freundinnen. Jacqueline habe ich erst auf dem Jüdischen Lyzeum kennen gelernt. Sie ist jetzt meine beste Freundin. Sanne geht in eine andere Schule und hat dort ihre Freundinnen.
Übungen
Text 2
Für mich ist Tagebuch schreiben seltsam. Nicht nur, weil ich noch nie Tagebuch geschrieben habe. Ich denke auch, dass ich und andere Menschen sich später nicht für die intimen5 Gedanken und Gefühle eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren. Aber das ist nicht so wichtig. Ich habe Lust zu schreiben. Und ich brauche jemanden, dem ich alles erzählen kann.
Man sagt „Papier ist geduldiger als Menschen“. Daran dachte ich, als ich an einem meiner eher traurigen Tage Langeweile hatte. Ich saß am Tisch, den Kopf auf den Händen, und ich hatte keine Energie. Weggehen oder zu Hause bleiben? Ich wusste es nicht. So blieb ich sitzen und dachte weiter nach. Genau, Papier ist geduldig. Und weil niemand dieses Tagebuch irgendwann lesen darf, ist es auch egal. Einzige Ausnahme: Vielleicht gibt es später in meinem Leben „die“ Freundin oder „den“ Freund.
So hatte ich die Idee mit dem Tagebuch: Ich habe keine Freundin. Das muss ich wohl erklären, denn niemand kann verstehen, dass ein Mädchen mit dreizehn ganz allein auf der Welt ist. Das ist auch nicht wahr. Ich habe liebe Eltern und eine Schwester, die sechzehn ist. Ich habe mindestens dreißig Bekannte; manche würden sagen: Freundinnen. Und ich habe viele männliche Bewunderer6. Sie lesen mir alle Wünsche von den Augen ab. Manchmal wollen sie sogar in der Klasse meinen Blick mit einem kaputten Spiegel fangen. Ich habe Verwandte und ein gutes Zuhause. Nein, es fehlt mir nichts, außer „die“ Freundin. Mit meinen Bekannten kann ich Spaß machen. Ich kann über alltägliche Dinge sprechen, aber es geht nie tiefer und nie werde ich intimer mit ihnen. Das ist das Problem. Vielleicht liegt das ja auch an mir. Jedenfalls ist es leider so und nicht zu ändern. Darum dieses Tagebuch.
Ich will nicht einfach so Tagebuch schreiben. Ich will meiner Freundin schreiben, die ich ja so gerne haben möchte. Deshalb soll dieses Tagebuch selbst meine Freundin sein. Und diese Freundin heißt „Kitty“.
Niemand versteht das, was ich Kitty erzähle, wenn ich einfach so losschreibe. Ich mache das nicht gern, aber ich muss wohl kurz meine Lebensgeschichte aufschreiben.
Mein allerliebster Schatz von einem Vater heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter. Sie war damals 25 Jahre alt. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main in Deutschland geboren. Am 12. Juni 1929 kam ich. Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Weil wir Juden sind, ging dann mein Vater 1933 in die Niederlande. Er wurde Direktor7 der Niederländischen Opekta Gesellschaft zur Marmeladenherstellung8. Meine Mutter, Edith Frank-Holländer, fuhr im September auch nach Holland. Margot und ich gingen nach Aachen in Deutschland, wo unsere Großmutter wohnte. Margot ging im Dezember nach Holland und ich im Februar. Da haben mich meine Eltern als Geburtstagsgeschenk für Margot auf den Tisch gesetzt.
Ich ging bald in den Kindergarten der Montessorischule. Dort blieb ich, bis ich sechs Jahre alt war. Dann kam ich in die erste Klasse. In der 6. Klasse kam ich zu der Direktorin Frau Kuperus. Am Ende des Schuljahres nahmen wir Abschied und weinten beide fürchterlich. Dann besuchte ich das Jüdische Lyzeum, wo Margot auch war.
In unserem Leben gab es viele Sorgen, denn unsere Familie in Deutschland litt unter Hitlers Judengesetzen. Nach den Pogromen 1938 flohen meine beiden Onkel nach Amerika, und meine Großmutter kam zu uns. Sie war damals 73 Jahre alt.
Ab Mai 1940 waren die guten Zeiten bei uns vorbei: erst der Krieg, dann kapitulierten die Niederländer und die deutschen Soldaten kamen ins Land. So begann das Elend9 für uns Juden. Es gab ein Judengesetz nach dem anderen. Jetzt hatten wir kaum noch Freiheiten. Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden