Wir wollten alle nichts essen. Es war noch warm und alles war so seltsam.
Das große Zimmer oben hatte Herr Goldschmidt gemietet. Er war bei uns und wir hofften, dass er bald wieder ging. Aber an dem Abend hatte er wohl nichts geplant. Er blieb bis zehn Uhr.
Um elf Uhr kamen Miep und Jan Gies. Sie haben erst vor kurzer Zeit geheiratet. Miep ist seit 1933 bei Vater in der Firma und eine gute Freundin geworden, ebenso ihr Mann Jan. Miep und Jan nahmen wieder Schuhe, Hosen, Bücher und Unterwäsche21 mit. Um halb zwölf waren sie gegangen.
Ich war sehr müde. Ich wusste ja, dass es die letzte Nacht in meinem eigenen Bett war, aber ich schlief sofort ein. Am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter um halb sechs. Es war gut, dass es nicht mehr so heiß war wie am Sonntag. Es regnete. Wir zogen uns alle so dick an, als müssten wir in einem Kühlschrank übernachten. So konnten wir mehr Kleider mitnehmen. Kein Jude würde in unserer Situation mit einem Koffer voller Kleider auf die Straße gehen. Das wäre viel zu gefährlich. So war ich angezogen: zwei Hemden, drei Hosen, zwei Paar Strümpfe, ein Kleid und darüber einen Rock, Mantel, Sommermantel, feste Schuhe, Mütze, Schal22 und noch viel mehr. Ich konnte schon zu Hause kaum atmen, aber das interessierte niemanden.
Margot packte so viele Schulbücher wie möglich in ihre Schultasche. Dann holte sie ihr Rad und fuhr hinter Miep her – zu einem unbekannten Ort. Ich wusste nämlich noch immer nicht, wo wir uns verstecken wollten.
Um halb acht schlossen auch wir die Tür hinter uns. Ich musste mich von meiner kleinen Katze Moortje verabschieden. Sie sollte ein gutes Zuhause bei Nachbarn bekommen. Das stand in einem Brief an Herrn Goldschmidt.
Als wir gingen, war das Bett nicht gemacht. Auf dem Tisch lag alles vom Frühstück und in der Küche gab es Fleisch für die Katze. Es sah so aus, als wären wir ganz schnell weggegangen. Das war uns egal. Wir wollten nur weg und sicher ankommen. Sonst nichts! Fortsetzung morgen.
Übungen
Text 5
Liebe Kitty!
So liefen Vater, Mutter und ich, jeder mit einer vollen Schul- und Einkaufstasche durch den Regen. In den Gesichtern der Arbeiter, die schon zur Arbeit gingen, konnten wir sehen, dass es ihnen leid tat, dass wir keine Fahrzeuge nehmen durften. Der große gelbe Stern sagte alles.
Erst als wir auf der Straße waren, erzählten mir Vater und Mutter nach und nach den ganzen Plan über unser Versteck. Seit Monaten hatten sie schon viele Sachen aus der Wohnung in das Versteck gebracht. Am 16. Juli wollten sie sich mit uns Kindern verstecken. Weil es aber den Aufruf für Margot gab, mussten wir das zehn Tage früher tun. Das bedeutete auch, dass die Räume im Versteck noch nicht fertig waren. Aber damit mussten wir leben.
Das Versteck war in Vaters Bürogebäude in der Prinsengracht 263. Dazu muss ich wohl einiges erklären. Vater hatte nicht viele Mitarbeiter. Da waren jetzt Herr Kugler, Herr Kleiman, Miep und dann noch Bep Voskuijl. Alle waren informiert, dass wir kommen.
Im Lager waren Herr Voskuijl, also Beps Vater, und zwei Arbeiter, die nichts von unserem Versteck wussten.
Das Gebäude sieht so aus: Unten ist ein großer Raum, das Lager. Dort gibt es Gewürze, Vorräte23 und mehr. Eine Treppe führt nach oben. Dort ist ein sehr großes, helles und sehr volles Büro. Hier arbeiten Bep, Miep und Herr Kleiman. Wenn man weitergeht, kommt man in ein dunkles Zimmer für den Direktor. Dort saßen früher Herr Kugler und Herr van Daan. Jetzt sitzt da nur noch Herr Kugler. Geht man von Kuglers Büro durch einen langen, schmalen Flur und steigt dann vier Stufen hoch, so kommt man zum schönsten Raum. Das ist das Privatbüro. Da stehen schöne dunkle Möbel, es liegen Teppiche auf dem Boden, es gibt ein Radio, eine elegante Lampe. Alles ist prima-prima. Daneben ist eine große Küche, wo man auch Wasser warm machen kann und mit Gas kochen. Dann noch ein Klo24. Das ist der erste Stock.
Vom unteren Flur gibt es eine Holztreppe nach oben. Dort ist ein kleiner Flur. Rechts und links sind Türen, die linke Tür führt zum Vorderhaus mit den Lagerräumen, die rechte Tür zum „Hinterhaus“. Bestimmt vermutet kein Mensch, dass es hinter der grauen Tür noch so viele Zimmer gibt. Direkt gegenüber der Tür ist eine steile Treppe, links ein kleiner Flur und ein Raum. Das ist dann das Wohn- und Schlafzimmer der Familie Frank. Daneben ist noch ein kleineres Zimmer. Das ist das Schlaf- und Arbeitszimmer von Margot und mir. Rechts von der Treppe ist ein kleines Zimmer ohne Fenster mit einem Waschbecken25 und einem extra Klo.
Von da aus gibt es eine Tür in Margots und mein Zimmer. Wenn man die Treppe hochgeht und die Tür öffnet, ist man überrascht. Hier gibt es einen hohen, hellen, großen Raum. Dort steht ein Herd und ein Spülbecken26 (das war früher Herr Kuglers Labor). Das ist also in Zukunft die Küche und das Schlafzimmer von Herr und Frau Daan, und auch das gemeinsame Wohnzimmer, Esszimmer und Arbeitszimmer. Ein sehr kleines Zimmerchen, durch das man durchgehen muss, wird Peters Zimmer. Dann gibt es, wie im Vorderhaus, einen Dachboden und noch einen darüber. Siehst du, jetzt habe ich dir unser ganzes schönes Hinterhaus vorgestellt.
Text 6
Liebe Kitty!
Vater, Mutter und Margot können sich nicht an die Glocke27 im Westerturm gewöhnen. Jede Viertelstunde sagt sie, wie spät es ist. Das ist ziemlich laut. Mir hat es jedoch sofort gefallen, besonders nachts. Es fühlt sich gut bekannt und normal an. Bestimmt interessiert dich, wie mir das Leben in unserem Versteck gefällt. Nun, ich kann dir nur sagen, dass ich es selbst noch nicht genau weiß. Wahrscheinlich fühle ich mich hier nie ganz zu Hause, auch wenn es hier ganz angenehm ist. Ich fühle mich eher wie in einem seltsamen Hotel, in dem ich Ferien mache. Das Hinterhaus ist ein ideales Versteck. Es ist feucht und ein bisschen schief, aber man findet wohl in ganz Amsterdam, vielleicht sogar in ganz Holland, kein so bequem eingerichtetes Versteck.
Unser Zimmer hatte Wände ohne Bilder, ohne irgendwas. Aber mein Vater hatte meine Postkarten und Bilder von Filmstars mitgenommen. Dafür bin ich sehr dankbar. Die habe ich auf die ganze Wand geklebt und so aus dem Zimmer ein einziges Bild gemacht. Es sieht viel fröhlicher aus. Wenn die van Daans kommen, machen wir aus dem Holz, das auf dem Dach liegt, einen kleinen Schrank und andere nette Dinge.
(…)
Und gestern Abend sind wir alle vier hinunter in das Privatbüro gegangen und haben den englischen Radiosender angestellt. Ich hatte solche Angst, dass es jemand hören könnte. Das ist doch verboten! Ich bat meinen Vater sehr, wieder nach oben zu gehen. Meine Mutter konnte meine Angst verstehen und ging mit mir nach oben. Überhaupt haben wir große Angst, dass die Nachbarn uns hören oder sehen könnten. Gleich am ersten Tag haben Vater und ich aus verschiedenen Tüchern Vorhänge genäht. Besonders gut haben wir das nicht gemacht. Die Vorhänge haben wir an den Fenstern festgemacht und da sollen sie bleiben, solange wir uns verstecken müssen.
Rechts neben unserem Haus ist eine Firma und links eine Schreinerei28. Diese Leute sind also nach der Arbeit nicht in den Gebäuden. Trotzdem dürfen wir auch abends nicht laut sein. Wir haben Margot verboten, nachts zu husten, auch wenn sie eine schwere Erkältung hat. Sie bekommt von uns ein starkes Medikament.
Ich freue mich, wenn am Dienstag van Daans