nicht auf die Straße; Juden dürfen nicht in Theater, Kinos und an andere Orte gehen, die für das Vergnügen gedacht sind; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, und auch nicht auf Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern10; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinen Sport machen; Juden dürfen nach acht Uhr abends nicht in ihrem Garten oder im Garten von Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und so weiter. So war unser Leben nun und wir durften dies und das nicht. Jacque sagt immer zu mir: „Ich habe nicht den Mut, irgendetwas zu machen, ich habe immer Angst, dass es nicht erlaubt ist.“
Im Sommer 1941 wurde Oma sehr krank und hatte eine Operation. Deshalb konnten wir meinen Geburtstag nicht wirklich feiern. Im Sommer 1940 auch nicht, weil die Niederländer kapitulierten. Oma starb im Januar 1942. Niemand weiß, wie oft ich an sie denke und sie noch immer lieb habe. Diesen Geburtstag 1942 haben wir für alle diese Geburtstage zusammen gefeiert, und Omas Kerze war dabei.
Auch wenn wir den Stern tragen müssen, in getrennte Schulen gehen und abends nicht ausgehen dürfen, wir nehmen es so, wie es ist. Margot und ich mussten im Oktober 1941 ins Jüdische Lyzeum wechseln. Sie geht in die 4. Klasse und ich in die 1.
Uns vieren geht es noch immer gut. Und nun sind wir beim Datum von heute, dem 20. Juni 1942. Und hiermit beginnt die feierliche Einweihung11 meines Tagebuchs.
Übungen
Text 3
Liebe Kitty!
Die ganze Klasse hat Angst, denn bald ist Lehrerkonferenz. Die halbe Klasse wettet: Wer schafft die Klasse? Wer nicht? Meine Nachbarin Miep und ich lachen über die beiden Jungs, die hinter uns sitzen und die sicher schon kein Geld für die Ferien mehr haben. Sie wetten die ganze Zeit. „Du schaffst es!“ „Nein, bestimmt nicht.“ … So geht es von morgens bis abends. Miep versucht es mit Blicken und ich werde wütend, aber sie hören nicht auf. Ich finde, ein Viertel der Klasse müsste das Jahr wiederholen. Manche sind so dumm! Für meine Freundinnen und mich habe ich nicht so viel Angst. Wir werden es wohl schaffen. Nur bei Mathematik bin ich mir nicht sicher. Bis dahin machen wir uns Mut.
Ich verstehe mich mit allen Lehrern und Lehrerinnen ziemlich gut. Es sind insgesamt neun, sieben männliche und zwei weibliche. Nur der alte Mathematiklehrer Herr Keesing war eine Zeit lang sehr böse auf mich, weil ich immer so viel schwätze12. Er sagte immer wieder: „Anne Frank, du darfst im Unterricht nicht reden!“ Und dann musste ich einen Aufsatz13 über das Thema „Eine Schwatzliese“14 schreiben. Was kann man da schreiben? Aber ich machte mir keine Sorgen, steckte das Aufgabenheft in die Tasche und versuchte, mich ruhig zu verhalten.
Am Abend nach den Aufgaben sah ich es plötzlich in meinem Heft: Ich muss ja noch diesen Aufsatz schreiben! Ich fing an, über das Thema nachzudenken. Einfach irgendetwas schreiben und dabei die Wörter so weit wie möglich auseinander ziehen, das kann jeder. Aber einen richtig guten Beweis finden, warum Schwätzen so wichtig ist, das war die Kunst. Ich dachte und dachte, und dann hatte ich plötzlich eine Idee. Ich schrieb die drei Seiten und war zufrieden. Ich behauptete, dass Reden weiblich ist. Ich wollte ja eigentlich nicht so viel reden und ich möchte mich ja bessern. Aber ganz kann ich diese Gewohnheit nicht aufgeben, weil meine Mutter auch so viel redet wie ich, vielleicht sogar mehr. Ich habe das geerbt15. Dagegen kann man eben wenig machen.
Herr Keesing lachte über meinen Aufsatz. Aber als ich in der nächsten Stunde wieder schwätzte, musste ich noch einen Aufsatz schreiben. Das Thema war „Eine unverbesserliche16 Schwatzliese“. Auch diesen Aufsatz schrieb ich. Zwei Stunden lang war Herr Keesing zufrieden. Aber in der dritten Stunde war es Keesing zu viel. Er sagte: „Anne Frank, weil du so viel schwätzt, schreibst du einen Aufsatz mit dem Thema: Queck, queck, queck, sagte Fräulein Schnatterbeck.“
Die Klasse lachte laut. Ich musste auch lachen, aber ich hatte keine Ideen. Ich musste etwas Ungewöhnliches finden. Meine Freundin Sanne half mir. Wir schrieben den Aufsatz in Reimen17. Sanne kann das gut. Ich war glücklich. Jetzt konnte ich Keesing zeigen, dass er mit mir keine Spielchen spielen konnte.
Das Gedicht war fantastisch. Es handelte von einer Mutter Ente und einem Vater Schwan18 mit drei kleinen Entchen. Und weil die Entchen so viel schnatterten19, tötete der Vater sie. Zum Glück versteht Keesing Spaß. Er las das Gedicht in unserer Klasse und anderen Klassen vor. Danach durfte ich schwätzen und musste keine Aufsätze mehr schreiben. Keesing macht jetzt sogar immer Witze.
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Text 4
Liebe Kitty!
Zwischen Sonntagmorgen und jetzt liegen für mich Jahre. Es ist so viel passiert. Alles hat sich total verändert. Aber, Kitty, du merkst, ich lebe noch. Das ist das Wichtigste, sagt Vater. Ja, ich lebe noch, aber frage nicht, wo und wie. Du verstehst mich sicher heute gar nicht, Kitty. Deshalb erzähle ich dir jetzt, was am Sonntag passiert ist.
Um 3 Uhr (mein Freund Hello war gerade gegangen und wollte wiederkommen) klingelte es an der Tür. Ich hatte es nicht gehört. Ich lag faul auf der Terrasse in der Sonne und las.
Kurz danach stand Margot an der Küchentür. Sie sagte ganz leise: „Für Vater ist ein Aufruf von der SS gekommen. Mutter ist schon zu Herrn van Daan gegangen.“
Ich erschrak schrecklich. Ein Aufruf! Jeder weiß, was das heißt. Konzentrationslager und einsame Gefängnisse. Solche Bilder hatte ich im Kopf. Und dahin sollte Vater gehen? Margot erklärte: „Er geht natürlich nicht. Du weißt ja, wir wollen uns verstecken. Vielleicht können wir schon morgen in unser Versteck umziehen. Van Daans gehen mit. Wir sind dann sieben Personen.“ Stille. Wir konnten nicht mehr sprechen. Ich dachte an Vater, der einen Besuch im jüdischen Altersheim machte und keine Ahnung hatte, was hier passiert war. Und dann das Warten auf Mutter, die Hitze, die Nervosität … Wir konnten nur schweigen.
Plötzlich klingelte es wieder. „Das ist Hello“, sagte ich. Margot hielt mich fest und sagte: „Nicht aufmachen!“ Aber da hörten wir Mutter und Herrn van Daan unten schon mit Hello reden. Dann kamen sie herein und schlossen die Tür. Wenn es klingelte, sollten Margot und ich leise hinuntergehen und nachsehen, ob es Vater war. Andere Leute durften nicht rein. Margot und ich mussten aus dem Zimmer gehen. Van Daan wollte mit Mutter allein sprechen. Als Margot und ich in unserem Zimmer waren, erzählte sie, dass der Aufruf nicht für Vater war, sondern für sie. Ich erschrak wieder und weinte. Margot ist sechzehn. So junge Mädchen wegschicken? Aber sie geht nicht! Mutter hatte es selbst gesagt. Und wahrscheinlich hatte das auch Vater gemeint, als wir über das Verstecken gesprochen hatten.
Aber wo sollten wir uns verstecken? In der Stadt? Auf dem Land? In einem Haus? Wann? Wie? Wo? Darüber dachte ich die ganze Zeit nach.
Margot und ich packten gleich das Nötigste in unsere Schultasche. Zuerst legte ich dieses Tagebuch hinein und dann Lockenwickler20, Taschentücher, Schulbücher, einen Kamm und alte Briefe. Ich dachte ans Verstecken, deshalb hatte ich überhaupt nicht vernünftig gepackt. Aber für mich sind Erinnerungen eben wichtiger als Kleider.
Um fünf Uhr kam Vater endlich nach Hause. Herr van Daan holte Miep. Sie kam, packte Schuhe