verstehen konnte. Diese Tatsache ließ vermuten, dass es sich bei der Toten um eine Person aus dem deutschsprachigen Raum handelte. Neben zahlreichen Tabletten und Tropfen fand sie ein Antidepressivum, das zu dem bisherigen Bild passte.
»Wenn es sich um Selbstmord handelt, müssten wir doch einen Abschiedsbrief finden?« Katharina war zurück in das Zimmer gegangen und blätterte einige fein aufeinander gestapelte Zeitschriften durch, die auf einem kleinen Schreibtisch lagen. Dazwischen steckte ein Umschlag, hastig fingerte sie den Inhalt hervor. Doch anstatt eines erwarteten Abschiedsbriefes, enthielt der Umschlag die Bestätigung einer Flugbuchung.
»Germanwings mit Rückflug, und da haben wir auch einen Namen«, rief sie Filippos freudig zu. »Der Rückflug von Athen nach Köln wäre in vier Tagen gewesen«. Sie packte die Tickets in einen Kunststoffbeutel. »Merkwürdig! Es begeht doch keiner einen Selbstmord, ohne eine Botschaft zu hinterlassen.« Die ganze Sache kam ihr langsam sonderbar vor. »Und dann noch am Ende der Welt, weitab von Angehörigen und Freunden.«
»Vielleicht gerade aus diesem Grund, vermutlich wollte sie allein gehen.«
»Wir müssen die Wirtin fragen, ob die Frau schon einmal hier gewesen ist. Warum hat sie sich für ihren Tod gerade Paros ausgesucht?«
»Glaubst du an Fremdverschulden«, fragte Filippos ungläubig. »Spanópoulos war sich ziemlich sicher, dass die Frau ertrunken ist.«
»Ich glaube an gar nichts, lass uns erst einmal den Bericht aus Athen abwarten.« Katharina benötigte Fakten.
Nachdem sie jeden Winkel des Zimmers inspiziert hatten, gingen die Beamten zurück zur Rezeption. Zwei große Augenpaare warteten gespannt auf eine Aussage.
»Wir haben keinerlei Ausweispapiere gefunden. Nur Medikamente, die auf eine ernsthafte Erkrankung der Frau hinweisen. Und ein Flugticket mit dem Namen der Verstorbenen.«
Die Pensionswirtin griff nach einem Ausdruck, auf dem weitere persönliche Daten der toten Urlauberin dokumentiert waren. Diese hatte sie bei der Reservierungsanfrage aufgenommen, neben dem Datum der Buchung und dem Namen der Frau, war auch die Anschrift vermerkt.
»Das Zimmer wurde kurzfristig gebucht, gerade erst vor einer Woche«, stellte Katharina fest.
»Ja, sie hat telefonisch angefragt und hatte Glück. Das hat nur geklappt, weil die Saison zu Ende ist. Vorher wäre nichts frei gewesen und eigentlich wollten wir schon dicht machen. Aber da einer unserer Stammgäste noch hier wohnt und sie ein neuer Gast war, haben wir die Buchung noch mitgenommen.«
»Das bedeutet, sie hat die Reise spontan geplant«, meldete sich Filippos zu Wort und ließ sich von seiner Chefin die Tickets zeigen.
»Solls ja geben.« Die Kommissarin hatte früher oft ihre Urlaube nur ein paar Tage vor Antritt der Reise geplant, meistens nur für ein Wochenende, wenn es ihr Dienstplan zuließ und sie dringend eine Verschnaufpause aus dem Moloch Athen brauchte.«
»Der Hinflug nach Athen ist auf drei Tage vor ihrer Ankunft in der Villa Sophia datiert«, bemerkte Filippos, nachdem er die Aufzeichnungen der Pensionswirtin mit den Flugdaten verglichen hatte. »Das bedeutet, sie muss vorher woanders gewohnt haben.«
»Stimmt, das wird schwierig herauszubekommen sein, aber jetzt haben wir wenigstens einen Namen und ihre Anschrift«, fasste Katharina ihre bisherigen Ermittlungen zusammen. »Es handelt sich um eine Deutsche aus Köln. Damit können wir auf die Suche nach den Angehörigen gehen.«
Die Kommissarin nahm sich noch die Zeit, Maria Kentaris zu deren Begegnungen mit der toten Urlauberin zu befragen.
Zuhause ließ Katharina sich mit dem Standesamt in Köln verbinden und nach Zusendung einiger Dokumente sowie nach unzähligen Telefonaten hatte sie in Erfahrung gebracht, dass die Verstorbene geschieden, und ihr Ex-Mann bereits vor neun Jahren verstorben war. So blieb nur eine aus der Ehe hervorgegangene Tochter, deren aktuellen Wohnort Katharina über das Meldeamt ermittelte. Mit wild klopfendem Herzen hatte sie umgehend versucht, die junge Frau zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. Schließlich hinterließ sie ihr eine Sprachnachricht und bat dringend um Rückruf.
So verblieb ihr wenigstens der Nachmittag, um sich endlich ihrem Garten zu widmen. Ihren freien Tag hatte sie sich anders vorgestellt.
JULIA MORETTI
HAMBURG, DEUTSCHLAND, SEPTEMBER 2016
Mit Schwung parkte Julia Moretti ihren roten Fiat 500 in der Tiefgarage des Appartementhauses, in dem sie nun seit drei Wochen lebte. Der kleine Flitzer war ihr ans Herz gewachsen, ein idealer Kleinwagen für die Stadt, wie sie befand, und ein symbolträchtiges Gefährt obendrein, insbesondere für eine Frau mit italienischen Wurzeln. So empfand sich Julia Moretti generell viel mehr als Italienerin, denn als Deutsche, obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen war. Schon als Jugendliche hatte sie sich bewusst lässig, südeuropäisch gegeben und alles typisch Deutsche abgelehnt. Das schlechte Verhältnis zu ihrer Mutter hatte dieses Verhalten noch bestärkt. Auch wenn sie es sich nicht gerne eingestand, so hatte sie doch sehr viele typisch deutsche Charaktereigenschaften von ihrer Mutter mitbekommen, wie ihre penible Pünktlichkeit und Disziplin. In ihrem beruflichen Umfeld wusste sie das geschickt einzusetzen.
Ihr kompakter Fiat wirkte in der großzügigen Tiefgarage verloren, Kleinwagen waren eher die Seltenheit. Aber das niedliche Gefährt war kein gewöhnlicher Wagen, er war Kult und sie brauchte ihn nur innerhalb Hamburgs. Für größere Strecken bevorzugte sie die Bahn oder den Flieger. Ganz besonders schätzte sie an dem guten Stück den geringen Platzbedarf. Zu lange hatte sie in Gegenden gewohnt, wo die Parkplatzsuche einem Sechser im Lotto gleichkam. Mit Fahrzeugen dieser Größenklasse, gestaltete sich die Suche nach einer freien Parklücke wesentlich einfacher. Sie griff nach ihrem Autoschlüssel, verriegelte ihren Wagen und lief zum Aufzug. Mit Unbehagen dachte sie an das Chaos in ihrer Wohnung, in die sie direkt aus der Tiefgarage hochfahren konnte. Ihr Magen revoltierte schon eine ganze Weile, sie hatte Hunger und auch wenn es schon spät war, Julia Moretti würde sich noch eine leckere Mahlzeit zubereiten. Dafür war immer Zeit, da kamen ihre italienischen Gene durch. Ein Gong signalisierte das Erreichen der obersten Etage. Als sich die Aufzugstür öffnete, hätte sie am liebsten die Augen zugemacht. Gemütlichkeit sah anders aus, die hochgestapelten Umzugskartons würden weitere Tage auf ihre Entleerung warten müssen. Mit Schwung warf sie ihre Tasche auf eine Kommode, schmiss ihren Mantel auf ihr Bett, zog ihre Pumps aus und lief barfuß in die Küche.
Heißhungrig öffnete sie den Kühlschrank. Auf einem flachen Teller lag unter einer stramm gespannten Frischhaltefolie ein gekochtes Stück Kalbfleisch. Bei dem Anblick lief Julia das Wasser im Munde zusammen. Gestern Nacht hatte sie ein gutes Kilo der mageren Kalbsnuss in leicht gesalzenem Wasser zusammen mit Suppengrün und Weißwein vorgekocht. Dies war die Grundlage für ein Vitello Tonnato, eine ihrer Lieblingsvorspeisen, manchmal auch Hauptgerichte, je nachdem wie hungrig sie war. Heute würde es wohl eher eine Hauptspeise werden. Jetzt musste sie nur noch die Soße zubereiten, eine Routineübung die ihr leicht von der Hand ging. Julia Moretti goss sich ein Glas Weißwein ein und spielte einen Augenblick mit dem Gedanken ihren Freund anzurufen, verwarf die Idee aber schnell wieder. Sie war für einen ausschweifenden Abend zu müde und wenn Markus käme, würde es wie immer ein intensiver Feierabend werden. Er war der richtige Kerl für guten Sex, das war aber auch alles, was sie beide verband, nicht mehr und nicht weniger. Darüber hinaus hatte das Paar es bisher nicht kommen lassen. Jeder besaß seine eigene Wohnung. Manchmal sahen sie sich mehrere Wochen nicht, wenn sie mal wieder beruflich unterwegs waren und die Zeit es einfach nicht zuließ. Ein Idealzustand in ihrer momentanen Situation und Markus teilte diese Einstellung, obwohl sie sich gerade in der letzten Zeit immer häufiger bei dem Wunsch nach mehr Zweisamkeit ertappte.
Sie nahm genüsslich einen Schluck Wein und widmete ihre Gedanken wieder dem Kochen. Geschickt trennte sie vier Eier, ließ das Eiweiß in eine Schüssel tropfen und kippte das Eigelb in eine mittlere Glasschale, dazu träufelte sie zunächst Olivenöl und dann Sonnenblumenöl. Mit großer Vorsicht rührte sie anschließend nach und nach Zitronensaft in die sich bildende Mayonnaise. Jetzt brauchte sie nur noch den Thunfisch und die Anchovis