das schmale Gesicht meiner Chefin blickte. Ihre zierliche Gestalt und die langen, zu einem strengen Zopf gebundenen tiefschwarzen Haare täuschten einen über die eigentliche Macht dieser Frau hinweg.
»Es ist wenig los in den letzten Monaten«, sagte sie wie zur Bestätigung und blickte erneut auf die riesigen Monitore. »Tatsächlich gab es uns Gelegenheit, ein paar längst fällige Urlaubsversprechungen endlich einzulösen. Vielleicht ein paar zu viele.« Unsere Blicke trafen sich. »Es tut mir leid, dass du deinen freien Tag abbrechen musstest. Ich hoffe, dass ihr beiden den Abend trotzdem genießen konntet.«
In diesem Moment war sie nicht meine Chefin, die sich bei einer Mitarbeiterin entschuldigte, sondern eine besorgte Ziehmutter.
»Es war ein sehr schöner Abend, Marie. Dankeschön.«
Als Anrede wählte ich ihren Vornamen nur, wenn wir allein waren. Obwohl sie so viel mehr für mich war als ein Name. Doch es hatte mir immer an Mut gefehlt, die Anrede zu benutzen, die sie eigentlich verdient hätte. Für den Bruchteil einer Sekunde brachen meine Erinnerungen durch. Ich war noch klein, fünf Jahre, als Marie de la Crox, die mächtigste Hexe der Ostküste, mich höchstpersönlich im Heim abgeholt hatte. Alles vor dieser Zeit war grau, nicht mehr Teil meiner Erinnerung oder vergraben unter dicken Staubschichten im hintersten Winkel meiner Seele. Seit dieser Zeit lebte ich im Wohnbereich des Zirkels und ging auf eine normale Schule. Alles unter der Obhut der Hexen, allen voran meiner Lehrerin, Mentorin, Ziehmutter. Es war die logische Konsequenz, dass ich an meinem achtzehnten Geburtstag den ewigen Vertrag mit meinem Blut unterschrieb, der mich für immer an den Zirkel binden sollte. Dies hier war mein Zuhause und würde es immer bleiben.
»Du hast etwas auf dem Herzen, Kind?«
Ich überkreuzte die Beine und legte die Stirn in Falten. Sie kannte mich einfach zu gut. Ein paar Sekunden der Ruhe gingen voran, bevor ich mit der Sprache rausrückte. »Diese Vilja war unglaublich stark. Es schien, als hätte sie Dutzende Seelen gefressen.«
Marie de la Crox nickte und faltete die Hände auf dem teuren Glastisch. »Das kommt vor. Ich habe gerade erfahren, dass in diesem Wohnhaus ein wahres Nest von Vampiren und Dämonen war. Die Reaper haben sich darum gekümmert und alles kurz und klein geschossen.«
Sie versuchte, ruhig zu klingen, mich mit ihrer Stimme zu beruhigen, doch etwas bedrückte sie noch. »Erinnerst du dich an die vier jungen Hexen und die zehn Reaper, die in den letzten Monaten verschwunden sind?«
Eine Gänsehaut lief meinen Rücken herunter und bestätigte die vage Vermutung, die ich nicht aussprechen wollte.
»Wir nehmen an, dass einige auf Kosten der Vampire und Dämonen gingen.« Sie seufzte, lehnte sich zurück. »Leider nicht die einzigen unserer Schwestern, die in den letzten Monaten den Tod fanden.«
Mit einer Handbewegung von de la Crox änderte sich das Bild auf einem der Monitore. Sofort brannten mir die Gesichter der getöteten Hexen und Reaper ins Auge. Vier Hexen in New York, sieben in Chicago, acht in Phoenix. Bei den Reapern sah es noch schlimmer aus.
»Anscheinend macht irgendjemand gezielt Jagd auf uns. Und das leider sehr erfolgreich. Was fällt dir auf, Isabelle?«
Ich zählte laut. »Zwölf tote Hexen in San Josè, vierzehn in San Francisco, vierundzwanzig in Los Angeles.« Augenblicklich wurde mir speiübel. »Den Westzirkel hat es am härtesten getroffen.«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Die Statistik der Reaper zeige ich dir erst gar nicht.« Sie atmete tief. »Isabelle, egal was du tust, bitte sei in Zukunft vorsichtig.«
Ein Moment der Ruhe folgte. Ich entschied mich, meine Gedanken offen auszusprechen. »Diese Vilja sprach von einer Umwälzung. Einer Welle, die über das Land hereinbrechen wird.«
»Es ist immer eine Umwälzung, ein Apokalypse, ein Inferno, von dem sie in ihren letzten Minuten sprechen. Große Reden, um Hexen Angst zu machen. Wie oft habe ich das schon erlebt ...«
Endlich schafften ihre Worte es, mich zu beruhigen.
»Solltest du nicht zu Hause sein und packen? Immerhin ist es dein erster Urlaub seit Jahren. Und wie ich dich kenne, hast du nicht mal deine Koffer rausgesucht, oder?«
Schon wieder traf sie ins Schwarze. Während man auf ihrem Schreibtisch Operationen am offenen Herzen hätte durchführen können, war meiner vollbeladen mit Dokumenten. Während sie akkurat und bis ins letzte Detail alles plante, war ich impulsiv und ließ mich von meinen Gefühlen leiten.
»Wenn so viel zu tun ist, kann ich auch hier bleiben. Wie kann ich in den Urlaub fahren, wenn an der Westküste meine Schwestern sterben.«
Sie lächelte matt. »Darum werden wir uns kümmern. Fahr in den Urlaub und sieh es einfach als einen Befehl an.«
Ich erhob mich und ging zur Tür, als noch einmal ihre helle Stimme meinen Schritt innehalten ließ. »Und Isabelle?«
»Ja?«
»Viel Spaß.«
***
Mein Gemüt hatte sich langsam beruhigt, als ich in den Fahrstuhl stieg und auf Tiefgarage drückte. Maries Worte waren wie Balsam für meine Seele gewesen. In diesem Moment empfand ich unendliche Dankbarkeit für alles, was sie für mich getan hatte.
Und trotzdem wühlte in mir ein Gefühl der Unzufriedenheit. Die Augen der Vilja, dieser stechende Blick und das wissende Lächeln in ihren letzten Sekunden gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Als die Tür sich zur Seite schob und den Blick in die Tiefgarage freigab, erhob sich meine Hand beinahe automatisch. Ich wählte das vierte Untergeschoss. Das Archiv.
Ich musste mehrmals blinzeln, als sich die Tür öffnete. Hier roch es muffig, als würde man über die Seiten eines antiquarischen Buches streichen und den Geruch einatmen, der sich dutzende Jahre dort festgesetzt hatte.
Mit Magie ließ ich die Neonröhren aufblitzen. Vor mir präsentierten sich unzählige breite Aktenschränke. Kleine Gassen ließen mich weit blicken – es mussten Millionen von Dokumenten sein, die hier lagerten. Viele aus unserer Zeit, aber auch etliche, die hunderte von Jahren überdauert hatten. Die Chroniken des Zirkels, zusammengefügt in einem stickigen, stillen Raum.
Unbehagen kroch in mir hoch, als ich zu den Computern schritt, die ihr flimmerndes Licht in den Raum warfen. Damit die Stille mich nicht verschlang, pfiff ich ein Lied, während ich das interne Suchsystem öffnete.
Das Suchwort »Umwälzung« ergab eine überschaubare Anzahl von lächerlichen dreißig Millionen Treffern. Aus purem Interesse klickte ich die ersten Protokolle an und – tatsächlich – so ziemlich jeder Provinzvampir schrie diese Worte kurz bevor er zu Staub wurde. Und das auf jedem Kontinent. So kam ich nicht weiter. Also ergänzte ich den Begriff »Hexenjagd« und beschränkte mich dabei auf die Neuzeit. Nur noch Dreitausend Treffer. Die meisten erst in den letzten Monaten archiviert. Jeder Zirkel auf der ganzen Welt meldete das gezielte Töten von Hexen. Frankreich, Russland, Deutschland ... überall schienen meine Schwestern in letzter Zeit Opfer von Überfällen zu sein. Irgendwas stimmte hier nicht.
Geprägt vom letzten Jahr und der Auseinandersetzung mit Nikolai, nahm ich die Zeitbeschränkung aus meiner Suche und ergänzte weitere Begriffe: »Sohn des Teufels«.
Jackpot! Nur ein Treffer. Diesmal ein altes Dokument – ein sehr altes. »Nicht online verfügbar«, konnte ich auf dem Bildschirm lesen.
Sollte es in den Archiven unserer europäischen oder russischen Schwestern liegen, würde es Wochen dauern, darin Einblick zu erhalten. Kurz davor auf die Tastatur zu schlagen, erkannte ich den Standort dieses Dokuments. Es war hier hinterlegt, in diesem Archiv, über Umwege nach New York gekommen. Sofort merkte ich mir die Nummer des Schranks und schritt durch die unzähligen Gänge. Nach wenigen Minuten in diesem Irrgarten zog ich mir die Schuhe aus und schlich über den weißen Teppich. Endlich erreichte ich den Schrank. Das Quietschen durchzog die Stille, als ich ein paar vergilbte Seiten, geschützt in Folie, aus der Ordnerkladde zog. Vorsichtig befreite ich das antike Pergament. Ich hatte erhebliche Mühe, das Geschriebene zu entziffern, die Tinte war kaum mehr zu lesen und bei jeder Bewegung