»Wo ist meine liebe Granny, Tante Margret?«, fragte der kleine Eddy Landell mit heiserem Stimmchen. »Warum kommt sie mich gar nicht besuchen?«
Margret Pahl war auf diese Frage gefasst. Einmal musste sie ja kommen, denn Eddy war jetzt schon eine Woche im Margaretenheim, das eigentlich ein Töchterheim war. Doch Margret hatte ihrer guten alten Freundin Emy Landell gern den Gefallen getan, den Sechsjährigen in ihre Obhut zu nehmen. Was sonst hätte mit Eddy geschehen sollen?
»Komm, setz dich zu mir, Eddy«, sagte sie sanft.
Der Junge, rötlich-blond, mit großen braunen Augen und zierlich wie ein Mädchen, kam zögernd näher.
»Du willst mir nichts Schönes sagen«, meinte er, Margret forschend anblickend.
Er war sehr sensibel und sah es wohl ihrer ernsten Miene an, dass ihn nichts Gutes erwartete.
Es fiel Margret unsagbar schwer, diesem kleinen Jungen mitzuteilen, dass seine Granny gestorben war, der einzige Mensch, der ganz zu ihm gehört hatte.
Eddy schloss die Augen. Margret hatte den Jungen an sich gezogen und streichelte sein Köpfchen.
»Sie war krank, sehr krank, Eddy«, flüsterte sie.
»Und immer sehr müde«, wisperte Eddy mit erstickter Stimme. »Meine allerliebste Granny!« Er schluchzte auf und barg sein Köpfchen an Margrets Brust. »Ist sie nun im Himmel, Tante Margret?«
»Ja, Eddy, und sie kann auf dich herabschauen. Sie will nicht, dass du traurig bist. Du sollst ein fröhliches Kind sein.«
»Kann sie im Himmel auch richtig schlafen?«, fragte Eddy nach einer gedankenvollen Pause.
Emy Landell ruhte unter einem Hügel, auf dem das erste Grün zu sprießen begann. Sie war hinübergeschlummert in eine andere Welt, zerbrochen an quälendem Kummer. Nur Margret Pahl wusste, was sie in ihren letzten Lebensjahren gelitten hatte.
»Kann ich nun wenigstens bei dir bleiben?«, fragte Eddy.
»Ja, mein Kleiner«, erwiderte Margret zärtlich.
»Warum habe ich keine Eltern wie andere Kinder?«, fragte er nachdenklich. »Warum habe ich niemanden?«
»Jetzt hast du mich, Eddy, und die Mädchen hier haben dich auch lieb. Es gibt viele Kinder, die keine Eltern haben.«
Aber wohl selten gab es eine Mutter wie Florence Landell, die sich nie um das Kind gekümmert hatte, das sie vor sechs Jahren zur Welt brachte. Ohne zu zögern, hätte sie es fremden Menschen überlassen, wenn ihre Mutter nicht energisch eingeschritten wäre.
Margret küsste Eddy auf die Stirn. Sie war selbst zweifache Großmutter, und sie begriff nicht, dass man ein so entzückendes Kind wie Eddy verleugnen konnte. Aber Florence, die jetzt mit dem Fabrikanten Frank Boyd verheiratet war, hatte Eddy nie gesehen. Ob sie sich jetzt doch noch zu ihm bekennen würde?
Margret packten Zweifel, als sie in das stille Gesicht des Jungen blickte.
Er brauchte Liebe, viel Liebe, und Florence war nicht geneigt gewesen, ihm Liebe entgegenzubringen. Wahrscheinlich war sie auch jetzt nicht dazu bereit.
Margret Pahl wollte sich heute mit dem Rechtsanwalt Dr. Rückert beraten, was man nun tun könnte, um Eddys Zukunft zu sichern.
Viel hatte Emy Landell nicht hinterlassen, und Margret fand, dass er ein Anrecht auf ein Elternhaus hatte.
Sie nahm den dicken Umschlag, in dem Emy ihr den schriftlichen Nachlass übergeben hatte, und steckte ihn in ihre Tasche.
»Wir fahren heute nach Hohenborn, Eddy«, sagte sie. »Da wirst du ein nettes kleines Mädchen kennenlernen, das mit dir spielen wird.«
»Ich möchte aber nicht spielen, ich möchte bei dir bleiben, Tante Margret.«
»Du bleibst ja bei mir, aber Spielkameraden brauchst du auch.«
Margret hatte mit Inge Auerbach verabredet, dass sie mit Bambi, ihrer Jüngsten, auch zu Dr. Rückert kommen sollte, mit denen die Auerbachs verschwägert waren.
Sie hätte Eddy auch gleich im Sonnenwinkel lassen können, aber sie fürchtete mit Recht, dass Eddy noch zu scheu war, um allein bei Fremden zu bleiben. Er klammerte sich jetzt an sie mit der Verzweiflung eines verlassenen Kindes, das allein auf der Welt stand, ahnungslos, dass seine Mutter in Glanz und Reichtum lebte.
*
»Warum kommt Eddy nicht zu uns, Mami?«, fragte Bambi Auerbach. »Hier könnten wir doch viel besser spielen als in Hohenborn bei Tante Rosmarie.«
»Eddy kennt uns noch nicht, Bambi«, sagte Inge Auerbach. »Tante Margret meint, dass er zu schüchtern ist, um allein bei uns zu bleiben.«
»Na ja, aber wir könnten uns doch ganz rasch kennenlernen. Was für Spielzeug soll ich denn alles mitnehmen?«
»Tante Rosemarie hat doch von Stella noch genügend da«, entgegnete Inge Auerbach.
»Ist es ein lieber Junge?«, fragte Bambi.
»Tante Margret sagt, dass er sehr lieb ist. Seine Granny ist erst kürzlich gestorben. Das ist sehr schlimm für ihn.«
Bambi war sogleich voll des tiefsten Mitgefühls.
»Der arme kleine Junge.«
Inge konnte versichert sein, dass Bambi sich alle Mühe geben würde, sich mit Eddy schnell anzufreunden.
Sie waren vor Margret und Eddy bei den Rückerts. Rosmarie Rückert hatte schon das ehemalige Kinderzimmer ihrer Tochter Stella, die mit dem ältesten Sohn der Auerbachs, Jörg, verheiratet war und mit ihm in Kanada lebte, hergerichtet, damit die beiden Kinder ungestört sein konnten. Auch Stellas Spielsachen hatte sie aus dem Schrank genommen, und Bambi war damit beschäftigt, sich alles genau anzusehen.
»Margret scheint sich da ein Päckchen aufgeladen zu haben«, meinte Rosmarie Rückert zu Inge Auerbach. »Sie gehört auch zu denen, die nie nein sagen können.«
»Hättest du denn nein gesagt?«, fragte Inge lächelnd.
»Nein, natürlich nicht, aber Margret hat doch mit diesen Mädchen schon genügend um die Ohren. Gerade jetzt hat sie doch ein paar ganz schwierige.«
»Sie wird damit fertig. Schau, sie will es doch gar nicht anders. Ich finde es nur gut, wenn man sich auch im Alter Ablenkung verschafft.«
»Du hast dich über zu wenig Abwechslung ja nicht zu beklagen«, bemerkte Rosmarie. Und da läutete es schon.
*
Bambi und Eddy musterten sich eingehend, aber diese Musterung schien auf beiden Seiten zur Zufriedenheit auszufallen, denn Eddy erhob keinen Widerspruch, als Bambi seine Hand ergriff und ihn in das Kinderzimmer zog.
Margret Pahl konnte ungestört mit Dr. Heinz Rückert sprechen, der ihr längst wohlbekannt war und mit dem sie auch dieses komplizierte Thema ohne Scheu erörtern konnte.
»Wie Emy mir erzählte, hat Florence ihr schon als junges Mädchen große Sorgen bereitet«, begann sie. »Sie hat immer ihren Kopf durchgesetzt und war auch ihrer Mutter gegenüber nicht gerade pingelig. Deswegen ist es mir doppelt lieb, wenn wir Emys schriftlichen Nachlass gemeinsam sichten, damit es später nicht heißt, ich hätte mich in Privatangelegenheiten gemischt, die mich nichts angingen.«
»Sie haben die Fürsorge für den Jungen übernommen, und es wäre schon sehr unkorrekt, wenn Sie dafür auch noch Vorschriften gemacht bekämen, Frau Pahl«, entgegnete Dr. Rückert. »Aber es wird ja wohl einiges zu klären sein. Frau Landell stand mit ihrer Tochter nicht mehr in Verbindung?«
»Sie hat ihr ein paarmal geschrieben, aber nie Antwort bekommen.«
»Schlimm für eine Mutter«, meinte Dr. Rückert.
»Das kann man wohl sagen. Sie hat sehr darunter gelitten. Dabei hat sie rührend für den kleinen Eddy gesorgt.«
»Er ist ein uneheliches Kind?«
»Ja. Wer sein Vater ist, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht finden wir es