Gesundheit gefallen, die Menschenwürde tangiert. Es besteht keine Garantie mehr, dass Herzinfarkte oder Schlaganfälle behandelt werden können. Italienische Ärztinnen und Ärzte berichten verzweifelt, es werde »triagiert wie im Krieg«.
Die Kommunikation zwischen den europäischen Öffentlichkeiten erweist sich als erschreckend schwerfällig. Ein geeintes Europa muss all seinen Teilen und Teilnehmern in Echtzeit zuhören und antworten können. Auch das ist eine (epistemische, also die Erkenntnisfähigkeit betreffende) Vorsorge- und Solidaritätspflicht, gerade im Kontext drohender, und noch mehr: im Angesicht bereits laufender Katastrophen.
Inzwischen ist die Botschaft aus Italien angekommen. In den Worten der Schriftstellerin Francesca Melandri:
Ich schreibe euch aus Italien, also aus eurer Zukunft. Wir sind jetzt dort, wo ihr in wenigen Tagen sein werdet. Die Grafiken der Pandemie zeigen, dass wir in einem parallelen Tanz miteinander verbunden sind, in dem wir euch zeitlich einige Tage voraus sind, so wie Wuhan uns einige Wochen voraus war. Wir sehen, dass ihr euch genauso verhaltet, wie wir uns verhalten haben. Ihr führt die gleichen Diskussionen wie wir bis vor kurzem, in denen die einen sagen, »Das ganze Theater ist doch nur eine etwas heftigere Grippe«, und die anderen bereits verstanden haben.
Wir werden darauf zurückkommen, wie wichtig es ist, wechselseitig von unseren Erfahrungen und Fehlern zu lernen, gerade und besonders im Kontext globaler Katastrophenrisiken. Denn wer nur aus den eigenen Fehlern lernt, lernt wenig – zu wenig.
Es stellt sich auch die Frage, warum die tragische Fallstudie Norditaliens nötig war, die europäischen Gesellschaften wachzurütteln. Wuhan hätte eigentlich genügen müssen. Die 11-Millionen-Stadt erwirtschaftet ein Pro-Kopf-BIP von 18 000 Dollar, hat ein passables Gesundheitssystem und wurde bei nur wenigen hundert dokumentierten Fällen unter militärisch überwachte Quarantäne gestellt. Dennoch kollabierten die Krankenhäuser sofort. Auf dieser Grundlage allein hätte sich das Urteil aufdrängen müssen, dass auch uns mit einiger Wahrscheinlichkeit Gefahr droht und schnelle Vorbereitungsmaßnahmen angezeigt sind. – Was aber, wenn man die Wahrscheinlichkeit, dass uns die Epidemie erreichen würde, für sehr gering gehalten hätte? Wäre es in diesem Fall nicht gerechtfertigt gewesen, gelassen zu bleiben?
Das Prinzip der Risikoabsicherung
Keineswegs. Man hätte sich vernünftigerweise trotzdem vorbereiten müssen. Nicht nur praktisch, sondern zunächst auch epistemisch – es lohnt sich, auf Vorrat zu denken. Wann immer man nicht an ein Worst-Case- bzw. Bad-Case-Szenario glaubt, legt die eigene Fehlbarkeit sogleich die Fragen nahe:
1 Was, wenn ich falsch liege? Oder was, wenn ich mit meiner Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass der schlimme Fall (Bad Case) eintritt, zwar richtig liege, dieser unwahrscheinliche schlimme Fall aber dennoch eintritt? Wie schlimm wäre dieses Szenario, welches Schadensausmaß wäre mit ihm verbunden?
2 Welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um mich gegen das Bad-Case-Szenario abzusichern, sollte es eintreten?
3 Welche Kosten wären mit diesen Maßnahmen verbunden und in welchem Verhältnis stehen sie zum Schadensausmaß des Bad-Case-Szenarios?
Wenn die erwarteten Kosten der Maßnahmen im Vergleich zum Schadensausmaß des Szenarios hinreichend gering sind, dann sollten die Maßnahmen ergriffen werden. Diesem Prinzip des Hedging bzw. der Risikoabsicherung folgen wir zum Beispiel dann, wenn wir im Auto einen Sicherheitsgurt tragen: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass wir in einen schweren Unfall verwickelt sein werden, und trotzdem sichern wir uns ab.
Das Prinzip lässt sich genauer qualifizieren und theoretisch-formal fassen. Eine wichtige Qualifizierung betrifft die Frage nach den Opportunitätskosten der ergriffenen Maßnahmen: Gegen welche anderen Risiken könnte man sich mit denselben Ressourcen ebenfalls absichern? Angenommen, andere Risiken sind mit einem bedeutend höheren Schadensausmaß verbunden. Dann kann es rational sein, die knappen Ressourcen entsprechend zu verschieben und die Absicherung gegenüber dem geringeren Risiko zu unterlassen. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin spricht in diesem Zusammenhang von einer kohärenten Risikopraxis.
Mit Bezug auf die theoretisch-formale Bestimmung des Hedging-Prinzips wurden in der Entscheidungstheorie und Risikoethik verschiedene Vorschläge gemacht. Dazu gehören unter anderem die Kosten-Nutzen-Analyse bzw. die Maximierung eines Erwartungsnutzens (das heißt des mathematischen Produkts aus Wahrscheinlichkeit und Ausmaß des verhinderten Schadens) sowie Modelle, die sich der Sozialwahltheorie oder der Theorie der Verhandlungsspiele bedienen. Alle plausiblen formalen Modelle schließen das Hedging-Prinzip in der einen oder anderen Abwandlung ein. Da es uns im vorliegenden Essay um die groben Linien geht, bleiben wir auf der informellen Ebene.
Man hätte sich die genannten drei Hedging-Fragen also spätestens nach dem epidemischen Ausbruch in Wuhan stellen müssen. Angesichts des möglichen Schadensausmaßes wäre es (1.) angezeigt gewesen, sich mit relativ kostengünstigen, aber im Falle einer Pandemie potentiell hocheffektiven Maßnahmen abzusichern (2. und 3.). Dazu hätten der Ankauf und die Eigenproduktion von Masken, der Ausbau von Testkapazitäten und die Vorbereitung digitaler Tracing-Verfahren gehört. Der Flugverkehr aus dem Risikogebiet hätte ebenfalls sofort eingestellt werden müssen.
Natürlich besteht bezüglich des Effektivitätsgrads der genannten Maßnahmen Unsicherheit, denn sie sind nur potentiell bzw. mit einiger Wahrscheinlichkeit effektiv. Das ist aber kein hinreichender Grund, sie nicht zu ergreifen – im Gegenteil: Erfolgreiches Hedging besteht gerade darin, nicht alles auf eine Karte zu setzen, also die Bemühungen aufzuteilen bzw. zu diversifizieren. Wenn jede der genannten Maßnahmen wirken könnte und hinreichend günstig ist, dann sollte unverzüglich das ganze Maßnahmenpaket ergriffen werden. Für jede Maßnahme kann dabei gelten, was der Risikoforscher Nassim Taleb über das Tragen von Masken angemerkt hat: Wir sollten nicht nur dann Masken tragen, wenn wir über starke empirische Evidenz verfügen, dass ein Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern. Wir sollten Masken tragen, wenn und weil wir nicht wissen, ob das Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern können. Taleb warnt seit Jahrzehnten vor Pandemien und anderen Katastrophenrisiken.
Eine Diversifizierungsstrategie verfolgt auch Bill Gates, dessen Stiftung sich seit Jahren im Bereich der Pandemieprävention engagiert. Gates unterstützt nun die Entwicklung von sieben Impfstoffen gegen das neue Coronavirus, von denen jeder Einzelne mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wirksam und sicher sein könnte. Erfahrungsgemäß ist dies für die Mehrzahl der jeweils in Entwicklung befindlichen Impfstoffe aber nicht der Fall, so dass letztlich wohl nur ein oder zwei Corona-Impfstoffe zur Massenproduktion freigegeben werden. Diese Skalierung erfordert für jeden Impfstoff den Bau entsprechender Fabriken. Die meisten von ihnen werden ungenutzt bleiben, weil sich die Mehrzahl der potentiellen Impfstoffe als unwirksam oder unsicher erweisen werden. Daher weiß Gates schon jetzt, dass er Milliarden »verschwenden« wird, indem er für jeden Impfstoff Produktionskapazitäten finanziert. Diese Diversifikation lohnt sich jedoch, denn es stehen weltweit potentiell Millionen Menschenleben und Billionen Dollar an wirtschaftlichem Wert auf dem Spiel. Wir können uns in der gegenwärtigen Katastrophenlage das Risiko nicht leisten, nach der erfolgreichen Entwicklung eines Impfstoffs auf die Einrichtung von Produktionskapazitäten warten zu müssen.1
2 Der Beitrag der Philosophie
Erwägungen in Bezug auf Risikoabsicherung sind im Bereich der Entscheidungstheorie und der Risikoethik zu verorten. Das Kernthema dieser philosophischen Disziplinen bildet die Frage nach der rationalen und ethisch vertretbaren Entscheidung unter Unsicherheit.2 Zur korrekten Einschätzung der Unsicherheit bedarf es der Epistemologie (Erkenntnistheorie), zu der auch die Wissenschaftstheorie gehört. Sie kümmert sich darum, wie wir uns rational gerechtfertigt Überzeugungen aneignen können, d. h. wie wir uns Überzeugungen aneignen sollen. Die Epistemologie kann daher als Teil einer umfassend verstandenen Ethik begriffen werden, nämlich als Ethik unserer Überzeugungsbildung, also unseres kognitiven Handelns. Insoweit die Risikoethik unser kognitives Handeln betrifft, kann sie als Risikoepistemologie bezeichnet werden. Sie untersucht die Risikoaspekte unserer Überzeugungsbildung.