der gegenwärtigen Krise hat sich schnell gezeigt, dass der angemessene Umgang mit der pandemischen Katastrophe nicht allein den Virologen und Epidemiologen überlassen werden kann. Was zu tun ist, hängt nicht nur von empirischen Fakten zur unmittelbaren Ursache der Katastrophenlage ab, etwa von den Eigenschaften des SARS-CoV-2-Virus oder der Art seiner Ausbreitung. Vernünftige Entscheidungen erfordern zumal in einer hochkomplexen Entscheidungssituation immer auch die Berücksichtigung und Abwägung vieler anderer Aspekte.
Das betonen auch Virologen. Der Hallenser Virologe Alexander Kekulé etwa findet es essentiell, »alle Seiten zu betrachten, die medizinische, die wirtschaftliche und die soziale«. Politische und rechtliche Gesichtspunkte wären dem sicherlich hinzuzufügen.
Doch wie können wir bestimmen, welche wissenschaftlichen Fachdisziplinen überhaupt relevant sind? Auch diese Frage liegt im Kompetenzbereich der Philosophie, insbesondere der Wissenschaftstheorie, der Entscheidungstheorie und der Ethik. Diese philosophischen Disziplinen entwickeln und diskutieren Entscheidungskriterien, die gleichsam als Filter für die Relevanz aller anderen Erwägungen dienen. Erst wenn die Fragestellungen, die unsere Entscheidungsprobleme konstituieren, klar formuliert und Kriterien für eine Entscheidungsfindung entwickelt worden sind, können wir feststellen, welche Fachdisziplinen Beiträge zur Lösung des jeweiligen Entscheidungsproblems liefern und wie diese jeweils zu gewichten und abzuwägen sind. Das versucht die Philosophie zu leisten. Und genau aus diesem Grunde ist ihr Beitrag zur Debatte um Covid-19 essentiell. Im vorliegenden Essay werden wir skizzieren, welche Aspekte dieser Beitrag abdecken könnte und in welcher Phase – also vor, während oder nach der Katastrophe – sie einschlägig sind.
Philosophie hat eine Deadline
Doch ist das überhaupt möglich? Auf den ersten Blick lässt sich durchaus bezweifeln, dass fundierte philosophische Arbeit über die Covid-19-Krise zu einem derart frühen Zeitpunkt möglich ist. In der Tat teilen offenbar viele, die sich sonst rege an gesellschaftlichen Diskussionen beteiligen, diese Auffassung. So sagte der Philosoph Michael Schmidt-Salomon etwa: »Ich sehe mich außerstande, irgendetwas Substantielles zu dieser Krise zu sagen, solange die Datenlage so lückenhaft und widersprüchlich ist, wie sie sich im Moment darstellt.«
Die epistemische Bescheidenheit Schmidt-Salomons ist für sich genommen lobenswert. Wir glauben trotzdem, dass es nicht nur möglich ist, schon jetzt etwas Substantielles zur Covid-19-Pandemie zu sagen, sondern halten es sogar für geboten, dies zu tun. Denn unabhängig davon, ob die Fakten bekannt sind oder nicht: Es ist klar, dass wir – als Gesellschaft – entscheiden müssen, wie wir mit der aktuellen Situation umgehen wollen. So viel »Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie«, meint der Philosoph Jürgen Habermas mit Blick auf die aktuelle Krise. Dieser Zwang entsteht, wenn durch Nichtstun wertvolle Optionen verlorengehen können, weil man damit bereits einen bestimmten Pfad eingeschlagen hat. Wir können uns wertvolle Chancen verspielen, wenn wir warten, bis die empirischen Daten endlich eindeutig sind.
Der Philosoph Nick Bostrom hat in diesem Zusammenhang einen hilfreichen Begriff geprägt. Er spricht von einer »Philosophie mit einer Deadline« (»philosophy with a deadline«). Damit meint er, dass philosophische Diskussionen manchmal einen Stichtag haben, der als solcher unmissverständlich vorgibt, bis wann spätestens eine Lösung vorliegen muss.
Das gilt zum Beispiel für philosophische Fragen in Bezug auf den Umgang mit aufkommenden Technologien, etwa der Künstlichen Intelligenz. Hier müssen wir Regeln für den Umgang mit absehbaren technologischen Entwicklungen finden, bevor die Einführung der Technologien Tatsachen geschaffen hat. Beispielsweise müssen wir wissen, wie wir selbstgesteuerte Fahrzeuge für dilemmatische Unfallsituationen programmieren sollten, bevor die autonome Fahrtechnologie marktreif ist. Ähnliches gilt in Fragen des Klimawandels, wo die Erreichung von Schwellenwerten bzw. Kipppunkten eine unaufhaltsame Erderwärmung einleiten würde.
In bestimmten Bereichen sind also wohl oder übel philosophische Fragen zu beantworten, weil Handlungsentscheidungen vor einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Das gilt auch für den Fall von Covid-19. Wenn wir nicht entscheiden, dann legen wir uns damit auf ein Ergebnis fest – ein Ergebnis, das wir womöglich hätten vermeiden sollen.
Damit können wir schon jetzt eine wichtige erste Schlussfolgerung ableiten: Wenn Philosophie in der Tat einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der komplexen Entscheidungsprobleme im Zusammenhang mit Covid-19 leisten kann, und wenn die entsprechenden Entscheidungen unmittelbar anstehen, dann können Philosophinnen und Philosophen sich nicht den Luxus erlauben zu warten, bis alle relevanten Daten vorliegen. Denn dann hat auch die philosophische Diskussion um Covid-19 eine Deadline.
Wir brauchen Philosophie in Echtzeit
Auch wenn Philosophie eine Deadline hat, bleibt in der Regel genügend Zeit, sich gedanklich zu orientieren, möglichst viele und möglichst hochwertige empirische Daten zu sammeln, verschiedene Thesen zu überdenken und nach reiflicher Überlegung zu urteilen. Philosophie mit Deadline impliziert für sich genommen keinen akuten Zeitdruck.
Im Fall der Covid-19-Epidemie bestand und besteht jedoch akuter Zeitdruck. Hier entfaltet sich direkt vor unseren Augen eine katastrophale Situation in hoher Geschwindigkeit. Sie konfrontiert uns mit enorm wichtigen philosophischen Problemen, die wir bisher womöglich nicht oder nur sehr unvollständig durchdacht haben. Und obwohl diese Probleme für uns gerade erst aufgetreten sind, haben sie schon eine Deadline – eine, die in diesem Augenblick abläuft. Aufgrund der hohen Dynamik des empirischen Geschehens müssen Fragen, Antworten und Argumente außerdem fortwährend weiterentwickelt und im Lichte neuer Informationen erneut überdacht werden. Diese für Katastrophen charakteristische Konstellation neuer philosophischer Probleme, kurzer Deadlines und dynamischer Entwicklungen erfordert Philosophie in Echtzeit.
Eine solche Philosophie erfordert eine grundlegende Neujustierung epistemischer Normen, die Philosophinnen und Philosophen normalerweise vertreten würden, denn der Katastrophenfall ist nicht der Normalfall. Da wir uns nicht in der glücklichen Lage befinden, auf hochwertiges Datenmaterial zurückgreifen zu können, müssen wir stattdessen die besten verfügbaren Informationen verwenden. Unsere Schlussfolgerungen sind also versuchsweise zu formulieren und gegebenenfalls zu revidieren, wenn neue, aussagekräftigere Information und Evidenz verfügbar wird. Philosophie in Echtzeit erfordert ständiges Nachjustieren.
Philosophie in Echtzeit braucht Wissenschaft in Echtzeit
Ein Großteil der besten verfügbaren Informationen stammt auch in der aktuellen Krise aus der Wissenschaft. Allerdings sollten wir – anders als in empirisch gut und ohne Deadline-Druck erforschten Bereichen – nicht erwarten, in einer dynamischen Katastrophenlage mit vollständig gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeiten und uns auf den Goldstandard der begutachteten Fachveröffentlichung stützen zu können. Zum aktuellen Zeitpunkt sind wichtige wissenschaftliche Fragen zwangsläufig offen, relevante Studien befinden sich erst im Stadium der Vorveröffentlichung. Die Wissenschaft von Covid-19, auf die wir uns stützen, wird gerade erst entwickelt. Und auch sie findet in Echtzeit statt.
Natürlich wäre es wünschenswert, erst einmal abzuwarten, wie sich die entsprechende wissenschaftliche Diskussion entwickelt, um sich dann auf einen etablierten Konsens stützen zu können. So ließe sich gewährleisten, dass die philosophische Diskussion der anstehenden Entscheidungsfragen empirisch robust ist. Doch diesen Luxus können wir uns im Katastrophenfall eben nicht leisten. Wichtige Entscheidungsprobleme müssen jetzt – nach bestem verfügbaren Wissen und Gewissen – diskutiert und geklärt werden. Deswegen sind wir, die wir Philosophie in Echtzeit zu praktizieren versuchen, ebenso auf Wissenschaft in Echtzeit angewiesen. Glücklicherweise lassen sich aus der angewandten Epistemologie und Risikoethik Richtlinien bzw. Heuristiken gewinnen, die uns dabei helfen, mit Unsicherheit und Dissens in der wissenschaftlichen Expertendiskussion vernünftig umzugehen.
Die Praxis hat Vorrang
Die Natur unserer Fragestellung – es geht uns um Entscheidungsprobleme, wie sie im Kontext der drohenden oder laufenden Katastrophe auftreten – gibt die epistemischen Normen