als epistemische Tugend gelten kann und was als Fehlleistung der Urteilskraft zu kritisieren ist. Um dies zu konkretisieren, ein Beispiel:
Nehmen wir an, vor uns steht eine Schale mit Münzen. Die eine Hälfte der Münzen ist normal bzw. fair, die andere Hälfte gezinkt (fällt also häufiger auf die Kopfseite). Wir nehmen eine Münze aus dem Haufen heraus, werfen sie einige Male und notieren das Ergebnis. Weil wir in Statistik aufgepasst haben, können wir berechnen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze häufiger auf die Kopfseite fällt und damit gezinkt ist, bei 70 % liegt. Dürfen wir daraus schließen, dass die Münze tatsächlich gezinkt ist?
Unter Normalbedingungen lassen das die gängigen Normen der wissenschaftlichen Praxis nicht zu. Eine Hypothese sollte erst dann angenommen werden, wenn – vereinfacht gesagt – die Daten, die sie stützen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 % oder weniger durch Zufall erklärt werden können.
Unter Normalbedingungen ergibt dieser institutionalisierte Zweifel Sinn – auch wenn die 5 %-Schwelle natürlich zu einem gewissen Grad beliebig ist. Eine derart strenge Skepsis ist aber nicht in jeder Situation vernünftig. Stellen wir uns vor, ein Milliardär tritt auf den Plan und macht uns das folgende Angebot: Wenn wir zutreffend einschätzen können, ob unsere Münze fair oder gezinkt ist, dann zahlt er uns eine Million. Wie sollten wir uns verhalten?
Sich hier herauszuhalten bzw. agnostisch zu zeigen, wäre hochgradig irrational. Wir wissen ja aus unserer Versuchsreihe, dass die Münze mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 % gezinkt ist. Also sollten wir darauf wetten, obwohl eine Restwahrscheinlichkeit von weit mehr als 5 % besteht, dass wir uns irren, wenn wir auf »gezinkt« tippen. Die erwarteten Konsequenzen dieser Entscheidung sind schließlich viel besser als jene der Alternative. Auch eine Wette auf »fair« wäre besser, als gar nicht zu tippen, um wissenschaftlich agnostisch zu bleiben.3
Dieses Beispiel zeigt, dass bestimmte Grundsätze der wissenschaftlichen Überzeugungsbildung, die unter Normalbedingungen vernünftig sind, mit Prinzipien der praktischen Rationalität in Konflikt geraten können.4 Das gilt umso mehr, wenn philosophische Fragen eine kurze Deadline haben und in Echtzeit beantwortet werden müssen, um etwa Katastrophenszenarien abzuwenden.
Übertragen wir das auf uns: Aus wissenschaftlicher Sicht können wir viele Fragen, die Covid-19 betreffen, noch nicht zufriedenstellend beantworten. Daraus folgt aber nicht, dass wir praktische Fragen noch nicht klar oder dass wir sie deshalb überhaupt nicht beantworten können. Wie der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch unterstreicht, wissen wir inzwischen für viele praktische Zwecke genug – wir wissen genug, um beherzte Entscheidungen zu treffen. In diesem Essay wollen wir der Frage nachgehen, welche Entscheidungen das gegenwärtig – Anfang April 2020 – sind.
Drei Fragen, die sich aufdrängen
Richten wir unseren Blick auf drei relevante Zeitabschnitte, nämlich: vor, während und nach der Katastrophe. Diese Dreiteilung bestimmt die weitere Struktur unseres Essays bzw. die folgenden drei Teile II, III und IV.
Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar?
Die beste Art, mit Katastrophen umzugehen, besteht darin, sie gar nicht erst eintreten zu lassen. Das erfordert effektive Präventionsarbeit, die Katastrophenrisiken im Vorhinein erkennt und vermeidet. Präventionsmaßnahmen hätten auch im vorliegenden Fall umfassender, früher und schneller ergriffen werden können – und müssen. In Teil II wollen wir das herausarbeiten. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, für die risikopolitische Präventionsarbeit der Zukunft wichtige Lehren zu ziehen.
Die Katastrophe ist da – was nun?
Sollte eine Katastrophe bereits eingetreten sein, geht es vor allem darum, rational und ethisch vertretbar mit ihr umzugehen. Wir setzen dabei an dem Zeitpunkt ein, ab dem die Epidemie nicht mehr mit Hilfe von Präventionsmaßnahmen zu kontrollieren war, und diskutieren die verfügbaren Handlungsoptionen mit ihren Vor- und Nachteilen, etwa ob ein Shutdown als Notbremse gerechtfertigt war und wie die Krise mittel- und längerfristig bewältigt werden kann.
Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe: Ausblick und Lehren
Welche Katastrophe uns als Nächstes droht, ist nicht sicher. Sicher aber ist: Es wird sie geben. Daher geht es uns im Schlussteil des Essays darum, Erkenntnisse zu formulieren, die uns bei der Prävention potentieller künftiger Katastrophen helfen können. Es wäre natürlich einseitig – und damit: risikoethisch fahrlässig –, sich dabei auf Katastrophenrisiken zu beschränken, die ausschließlich von möglichen Infektionskrankheiten ausgehen. Wir weiten deshalb den Blick und diversifizieren das Risikoportfolio. Insbesondere erörtern wir die Katastrophenrisiken in den Bereichen des Klimawandels und der Künstlichen Intelligenz.
II Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar?
1 Die Katastrophe, die niemand kommen sah
Am 20. März 2020 lädt das Robert Koch-Institut (RKI) zur Pressekonferenz. Lothar Wieler, der Präsident des RKI, sitzt mit ernster Miene vor dem Mikrophon. Er sagt: »Wir sind alle in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.« Wenn Wieler, immerhin Deutschlands höchster Seuchenschützer, diese Aussage tätigt, dann war die Covid-19-Epidemie in Deutschland wohl unvorhersehbar, dann hätte niemand diese Katastrophe kommen sehen können.
Diese These wollen wir im Folgenden diskutieren. Wir wollen aufzeigen, warum das Risiko, das sich in Covid-19 realisiert hat, früh erkennbar war und warum es durch geeignete Maßnahmen möglich gewesen wäre, dieses Risiko für Deutschland deutlich zu senken. Aus Sicht der Risiko- und Katastrophenethik hätte genau das geschehen müssen. Es geht uns dabei – wie gesagt – nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen philosophischen Beitrag zur Präventionsarbeit.
War Covid-19 also vorhersehbar? Das hängt davon ab, wie man diese Frage versteht. Mit der Frage könnte zum Beispiel gemeint sein, dass man schon vor Beginn der Pandemie hätte wissen können, dass ein neuartiges Coronavirus in der Stadt Wuhan auf den Menschen überspringen und eine globale Gesundheitskrise auslösen würde. Eine solche Behauptung wäre offensichtlich unseriös.5 Bisher verfügen wir über keine wissenschaftlich fundierte Möglichkeit, derart spezifische Vorhersagen zu treffen.
Dennoch sind wir der Meinung, dass zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten mindestens drei Sachverhalte erkennbar waren, so dass wir drei Thesen formulieren können:
These 1: Es war schon lange bekannt, dass eine Katastrophe dieser Art im Bereich des Möglichen liegt.
These 2: Unmittelbar nach dem Ausbruch von Covid-19 in Wuhan gab es Anzeichen dafür, dass eine Pandemie bevorstehen könnte.
These 3: Das Schadenspotential einer Covid-19-Pandemie war kurz nach dem Ausbruch erkennbar.
Pandemien sind erwartbar
Für These 1 lassen sich zunächst historische Belege anführen: Covid-19 ist natürlich nicht die erste Infektionskrankheit der Weltgeschichte, die eine Epidemie bzw. Pandemie ausgelöst hat.
Aus dem Altertum sind Seuchen bekannt, die große Teile der Bevölkerung dahinrafften. Zu den frühesten dokumentierten Fällen zählen etwa die Attische Seuche, die Athen während des Peloponnesischen Kriegs im fünften Jahrhundert v. Chr. heimsuchte, oder die Antoninische Pest im Römischen Reich des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Seit dem sechsten Jahrhundert n. Chr. wurde Europa und Vorderasien von einer Vielzahl von Pestwellen heimgesucht, die im Schwarzen Tod des Spätmittelalters gipfelten und viele Millionen Todesopfer forderten.
Im 20. Jahrhundert sind mit der Spanischen Grippe (1918–1920), der Asiatischen Grippe (1957–1958), der Hongkong-Grippe (1968–1970) und der Russischen Grippe (1977–1978) vier Influenza-Pandemien zu verzeichnen. Im frühen 21. Jahrhundert trat mit der Schweinegrippe (2009) eine weitere hinzu.
Die Spanische Grippe zeigte das zerstörerische Potential einer pandemischen Influenza besonders deutlich auf. Sie forderte nach