Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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und im Ghetto heisst „schlagen“: zu Fall bringen. (HAUBENSAK 1975: 575)

      Von Graffitis in Deutschland, die in eine Szene eingebunden sind, ist in diesen Publikationen allerdings noch nichts zu lesen. Auch WELZ bezieht sich 1984 in ihrem Aufsatz „Die wilden Bilder von New York City“ noch ausschließlich auf ihre Beobachtungen während eines Auslandaufenthaltes in den USA.6

      Erste Publikationen, in denen über die Anfänge des Szenegraffitis in Deutschland berichtet wird, entstehen Ende der 80er-Jahre. Hier ist beispielsweise auf die Werke des Kunsthistorikers STAHL (1989, 1990, 2012) zu verweisen, der beschreibt, wie sich in vielen europäischen Städten „Jugendliche mit den Helden des New Yorker Untergrunds identifizier[en]“ und deren Praktiken, Ausdrucksformen und deren Vokabular übernehmen (1989: 90). Ab Mitte der 80er-Jahre – und damit mit Herausbildung der deutschen Szene – geraten auch zunehmend die Akteure mit ihren sozialen Kontexten in den Blick der deutschsprachigen Graffitiforschung. Es entstehen überblicksartige Werke, die Einblicke in Vokabular, Tätigkeiten und Hierarchien der Szene geben. Zu nennen sind hier „Das Graffiti-Lexikon“ des Ethnologen KREUZER (1986) und das „Graffiti Lexikon“ des Sozialpädagogen VAN TREECK (1993).7

      In diesem Zeitraum entstehen auch Werke aus der Szene heraus, d.h., Writer beschreiben die Szene in eigenen Publikationen, in denen sie ihre Erfahrungen schildern und privates Bildmaterial präsentieren. In diesem Zusammenhang sind etwa KARL (1986) und die seit 1994 beim Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienene Buchreihe „Graffiti-Art“8 zu nennen. Die Autobiographie des Berliner Writers ODEM ([1997], 2008) zeugt ebenfalls von dem Interesse, die Graffitiszene möglichst authentisch, d.h. durch Mitglieder der Szene, zu beschreiben.

      Zudem erscheinen verschiedene soziologische und sozialpädagogische Studien mit zum Teil sehr spezifischen Fragestellungen, in denen die Einstellungen der Akteure zu unterschiedlichen Themen untersucht werden (zur deutschen Szene vgl. z.B. SCHMITT UND IRION 2001, SACKMANN ET AL. (Hg.) 2009, zur amerikanischen Szene MACDONALD 2001, RAHN 2002, SNYDER 2009). Die Ergebnisse dieser Studien basieren typischerweise auf qualitativen Interviews.

      In den 90er-Jahren lässt sich eine zunehmende kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Graffiti beobachten. Im gleichen Zeitraum bildet sich auch die Street-Art aus der Graffitiszene heraus, deren Akteure stärker bildorientiert arbeiten und mit Papierschnitten, Stencils (mittels Schablonen gefertigte Werke) und Figuren auch neue, eigene Formen hervorbringen. Im Verlauf dieser Entwicklung werden Graffitis verstärkt in kunstwissenschaftlichen Abhandlungen berücksichtigt und dabei häufig zusammen mit Street-Art-Werken in den Blick genommen (vgl. dazu GOTTLIEB 2008, WACŁAWEK [2011], 2012, REINECKE 2012).

      Auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen findet eine Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti statt, z.B. im Bereich der Medienwissenschaft (vgl. dazu DITTMAR 2009), der Psychologie (vgl. dazu RHEINBERG UND MANIG 2003), der Rechts- und Kriminalwissenschaft (vgl. dazu BEHFOROUZI 2006, JEREMIAS 2010) und der Politikwissenschaft (vgl. dazu KLEE (Hg.) 2010). Die Perspektiven auf Graffiti unterscheiden sich dabei stark; im Bereich der Rechts-, Kriminal- und Politikwissenschaft wird Graffitiwriting beispielsweise primär als delinquentes Verhalten perspektiviert.

      1.3.2 Graffiti als Forschungsgegenstand der Linguistik

      Es gibt bislang erst einige wenige Untersuchungen, die Graffitis aus einer (schrift-)linguistischen Perspektive in den Blick nehmen. Das liegt zum einen daran, dass das Interesse der Schriftlichkeitsforschung lange Zeit primär den Formen ausgebauter Schriftlichkeit, also konzeptioneller Schriftlichkeit, galt (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 101). Graffitis zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, Formen minimaler Schriftlichkeit zu sein, d.h., sie bestehen oft nur aus einzelnen Wörtern oder Phrasen und bleiben auch in ihrer Bedeutung mitunter rätselhaft (TOPHINKE 2017: 161ff.). Als solche minimalen Formen standen sie zunächst weniger im Fokus der linguistischen Forschung. Zum anderen ist die relativ späte Beschäftigung mit Graffiti auch so zu begründen, dass die (Schrift-)Linguistik stärker an normgetreuen Formen der Schriftlichkeit orientiert war. Normabweichende Schreibungen, wie sie im Graffiti häufig zu finden sind, gerieten kaum in den Blick, was sicherlich auch im „stark normativ geprägten Verständnis von Schriftlichkeit begründet [liegt], das sich in schreibdidaktischen Zusammenhängen vermittelt“ (SCHUSTER UND TOPHINKE 2012a: 14).1

      Darüber hinaus stellten Graffitis auch aufgrund ihrer besonderen bildlichen Gestaltung ein „Randphänomen“ der Linguistik dar (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 181). Wie PAPENBROCK UND TOPHINKE schreiben, bildeten Graffitis für die Linguistik aufgrund ihres „bildhaften Charakters“ einen eher untypischen Gegenstand (2012: 181). Die visuelle Erscheinung von Schrift wurde bis vor wenigen Jahren nicht als relevanter Forschungsgegenstand der Linguistik betrachtet.2 Erst im Zuge der Erkenntnis, dass Schrift weitaus mehr leistet, als mündliche Sprache aufzuzeichnen, fand auch die visuelle Seite der Graphie zunehmend Berücksichtigung.3

      Um die linguistische Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti möglichst systematisch darzustellen, werden im folgenden Abschnitt einige wichtige Publikationen chronologisch vorgestellt und diskutiert.

      Erste linguistische Publikationen, die sich mit Graffiti im weitesten Sinn auseinandersetzen, erscheinen in den 80er-Jahren.4 In diesen frühen Veröffentlichungen werden Graffitis häufig als informelle, jugendsprachliche Äußerungen perspektiviert. BLUME (1980, 1981) untersucht Graffitis etwa als „schriftliche sprachliche Äußerungen auf Tischen, Stühlen, Wänden und Türen von Klassenzimmern“ und gliedert diese Äußerungen anschließend nach syntaktischen und semantischen Typen (1980: 173). NEUMANN fasst in ihrer Dissertation 1986 Gaunerzinken, Tramperspuren und weitere Zeichen an der Wand als Graffitis auf und stellt den oppositionellen Anspruch dieser Zeichen heraus. Sie deutet diese Zeichen als „Widerstand gegen standardisierte Kommunikation“ und als „Aufstand der Normalsprache“ (NEUMANN 1986: 270). NEUMANN nimmt in dieser Arbeit auch eine sprachwissenschaftlich orientierte Kategorisierung der Graffitis vor und legt dabei bereits eine Kategorie mit „Namen und Pseudonyme[n]“ an (1986: 91ff.). Auf der Grundlage einzelner Beispiele aus ihrem Korpus stellt sie fest, dass die Namen „einen grafischen Überschuß“ haben und sich mit Ornamenten und Pfeilen zu „Buchstabenfiguren“ zusammensetzen (NEUMANN 1986: 100).

      SCHMIEDEL ET AL., die Graffiti 1998 ebenfalls als jugendkulturelles Phänomen betrachten, stellen bereits das Szenegraffiti in den Fokus ihrer Betrachtung. Sie werten dabei 261 Fotografien, ein Blackbook5 und qualitative Interviews aus der Osnabrücker Szene aus und zeigen auf, anhand welcher Kategorien Graffitis von den Akteuren beschrieben und bewertet werden.

      Eine andere Perspektive auf Graffitis eröffnet sich mit der Entwicklung der Linguistic-Landscape-Forschung. In dieser Forschungsrichtung, die in Kapitel 2 noch genauer beschrieben wird, geht es um die Betextung des öffentlichen Raums und darum, welche Formen von Schriftlichkeit sich in einem bestimmten geographischen Raum finden, welche Sprachen vertreten sind, wo die Schrift platziert ist etc. Da es sich bei Graffitis um Schriftformen im öffentlichen Raum handelt, rücken sie in den Fokus der LL-Forschung. Im Rahmen dieser Forschungsrichtung nimmt sich zunächst PENNYCOOK (2009, 2010) des Themas an. Er betont, dass Graffitis nicht nur im urbanen Raum angebracht werden, sondern diesen wesentlich mit konstruieren: „Landscapes are not mere backdrops on which texts and images are drawn but are spaces that are imagined and invented.“ (PENNYCOOK 2009: 309f.) In dieser Perspektive wird auch der räumlich-situative Kontext bei der Betrachtung der Graffitis relevant (PENNYCOOK 2010: 143).6 Weitere Publikationen, die das Thema Graffiti betreffen und der LL-Forschung zugeordnet werden können, stammen von KAPPES (2014), SCHMITZ UND ZIEGLER (2016) und WACHENDORFF ET AL. (2017).

      Zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtung werden Graffitis auch als Formen des „Andersschreibens“ (SCHUSTER UND TOPHINKE (Hg.) 2012b). SEBBA (2003, 2007, 2009) geht beispielsweise in verschiedenen Publikationen auf Graffitis ein, um aufzuzeigen, dass orthographische Abweichungen als Mittel genutzt werden, mit dem sich soziale Gruppen konstituieren und von anderen Gruppen abgrenzen (2007: 168). Er versteht Graffiti dabei als „one of the few types of very public writing where no spelling is imposed; writers are free to flout all norms or to develop their own new ones“ (SEBBA 2003: 161). Auch JØRGENSEN (2007, 2008) perspektiviert Graffitis als besondere Schreibungen. Er hebt insbesondere den kreativen Umgang