Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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durch die graffititypische Gestaltung somit nicht per se unlesbar. 1

      Abb. 3: Lesbarer Style von DIAS (28188)

      Für viele Werke des Szenegraffitis lässt sich jedoch feststellen, dass „die beabsichtigte ästhetische Wirkung der Schrift ihre Lesbarkeit, also die Erkenn- und Unterscheidbarkeit der Buchstaben massiv beeinflußt“ (DITTMAR 2009: 127). Die Werke müssen beispielsweise länger betrachtet werden, bevor sich ihre Schriftlichkeit erschließt. Wendet man das Konzept der Transkriptivität von JÄGER (2010) an, so lässt sich sagen, dass diese Formen intransparent sind, weil sie nicht auf ungestörte Lesbarkeit abzielen (TOPHINKE 2019: 367). Transparenz kann man als „Zustand ungestörter medialer Performanz ansehen, in dem das jeweilige Zeichen/Medium mit Bezug auf den Gehalt, den es mediatisiert, verschwindet, transparent wird“ (JÄGER 2010: 317). Eine Schrift ist demzufolge transparent, wenn sie in ihrer Bildlichkeit für das Lesen optimiert ist, sodass der Rezipient sofort zur Bedeutung durchdringt. Die Materialität des Zeichens wird dabei nicht weiter relevant. Demgegenüber liegt JÄGER zufolge im Verlauf der Kommunikation eine „Störung“ vor, wenn „ein Zeichen/Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird“ (2010: 318).2 Man könnte somit sagen, dass Intransparenz bzw. die „Störung“ des Lesens zur Typik des Szenegraffitis gehören. TOPHINKE (2019: 367) weist allerdings darauf hin, dass dieser Mangel an Transparenz in den Graffitis kein Defizit darstellt, denn die Störung „macht auf die gestalterischen Eigenschaften der betreffenden Graffitis aufmerksam, an denen sich die Qualität des Graffitis innerhalb der Szene bemisst“.

      Am Ende einer Skala der Transparenz bzw. Intransparenz stehen die Graffitis, deren Buchstaben so ineinander verschlungen sind, dass die zugrunde liegenden Formen nicht mehr erkennbar sind. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich die jeweiligen Types3 der Buchstaben nicht ausmachen lassen.4 Für Notationssysteme, zu denen auch die Alphabetschrift zählt, gilt jedoch als grundlegend, dass die einzelnen Zeichen „disjunkt“ und „endlich differenziert“ sind (GOODMAN [1995], 2012: 130, 132). Das Charakteristikum der Disjunktivität eines Schriftzeichens besagt,

      dass Schriftzeichen Abstraktionsklassen sind, die sich in ihren Elementen nicht überschneiden: Ein ,a‘ darf nicht zugleich ein ,d‘ sein, während alle Versionen von ,a‘ sich wechselseitig vertreten können. (KRÄMER 2006: 77)

      Mit anderen Worten muss für den Leser in einem funktionierenden Notationssystem erkennbar sein, welchem Type sich ein bestimmtes Token zuordnen lässt (GRUBE UND KOGGE 2005: 15). Mit „endliche[r] Differenzierung“ ist in Bezug auf Notationssysteme des Weiteren gemeint, dass die Zeichen nicht ineinander übergehen, sondern durch einen Abstand voneinander getrennt sind (GOODMAN [1995], 2012: 132).5

      Für das Szenegraffiti lässt sich nun feststellen, dass Strukturmerkmale wie die Disjunktivität und die endliche Differenzierung mit zunehmender Stilisierung der Zeichen schwinden. Abb. 4 enthält Beispiele aus Mannheim und zeigt, wie die Lesbarkeit abnimmt, wenn die Disjunktivität und die Differenzierbarkeit der Formen nicht mehr gegeben sind. Rechts neben dem gut lesbaren Schriftzug CPUK steht beispielsweise der Name MIKI, was (ohne Vorwissen) kaum noch dekodierbar ist. Die Lesbarkeit wird dadurch erschwert, dass sich zwischen den Buchstaben keine differenzierende Lücke findet und sie stattdessen übereinandergeschichtet sind. Beim Graffiti ÄRIS in der darunter liegenden Zeile wird die Lesbarkeit dadurch erschwert, dass die Formen teilweise nicht disjunkt sind. Das |R|6 könnte auch ein |P| sein, das |S| eine Fünf. Dennoch ist das Graffiti noch lesbar. Im Beispiel rechts daneben sind hingegen nur noch Teilformen erkennbar, die sich nicht mehr zu einem Buchstabentype zusammenfügen. Die Formen, aus denen sich das Tag zusammensetzt, lassen sich daher kaum noch als Grapheme interpretieren und wirken stattdessen eher als Figuren. Die Formen gehen somit – so könnte man sagen – von Graphemen zu Figuren über, je stärker endliche Differenzierung und Disjunktivität schwinden.

      Abb. 4: Der Übergang von Graphemen zu Figuren

      Neben der Schriftgestaltung können auch inhaltliche Aspekte die Sinnzuweisung im Graffiti beeinflussen. Das „Meaning-making“7, also das Aushandeln von Sinn und Bedeutung, wird für die Rezipienten beispielsweise erschwert, wenn Graffitis als Wörter ohne eine lexikalische Bedeutung erscheinen. Dies ist insbesondere bei den Graffitinamen der Fall: Da die Writer in ihrer Namenwahl relativ frei sind, werden Namen oftmals aus Neologismen gebildet.8 Bei Namen wie PANIK (30796) und HOPE (30762) erfassen die Rezipienten zumindest die konzeptionelle Semantik, auch wenn Szeneunkundige diese Graffitis wohl nicht als Namen, sondern eher als Appellativ interpretieren würden. Ist bei einem Graffiti hingegen keine transparente Semantik erkennbar, ist das „Meaning-making“ für Außenstehende noch schwieriger. So aktiviert ein neologistischer Name wie WES weder eine konzeptionelle Semantik, noch kann er einem Referenzobjekt zugewiesen werden. Für szeneunkundige Rezipienten bleiben diese Graffitis daher oft rätselhaft.

      2.1.3 Transgressiv

      Das Konzept der transgressiven Zeichen führen SCOLLON UND SCOLLON in ihrer Monographie „Discourses in Place“ (2003) ein. In dieser diskutieren sie im Rahmen einer „Geosemiotik“, wie sich die Bedeutung von sprachlichen und anderen Zeichen in Abhängigkeit von ihrer Platzierung ergibt.1 Zeichen gelten dabei als transgressiv, wenn sie an einem falschen Ort platziert sind (2003: 146). Dass Zeichen „falsch“ platziert sein können, basiert auf der Annahme, „that there is in each community some geosemiotic system which tells members where signs and messages may appropriately appear and where they may not“ (SCOLLON UND SCOLLON 2003: 148f.).

      Graffitis können SCOLLON UND SCOLLON zufolge aufgrund ihres „Emplacement“ und ihrer fehlenden Autorisierung als transgressiv bewertet werden (2003: 151).2 Ähnlich äußert sich AUER, der Zeichen, die „weder dem Prinzip des privaten Raumbesitzes noch dem Prinzip des öffentlich-staatlichen Raumprivilegs folgen“, als transgressiv bezeichnet und auch Graffitis zu diesen transgressiven Zeichen zählt (2010: 295f.). Indem sie die Aufteilung und Normierung des öffentlichen Raums durchbrechen, überschreiten sie die geltenden Regeln (lat. transgredi ‚überschreiten‘, ‚hinübergehen‘). Werden Graffitis hingegen an einem „richtigen“ Ort platziert und ist die Anbringung autorisiert – was bei legalen Auftragsarbeiten der Fall ist –, werden sie nicht mehr als transgressiv empfunden; SCOLLON UND SCOLLON sprechen dann von „decontextualized transgressive semiotics“ (2003: 151).

      Wichtig für das Verständnis des Szenegraffitis ist jedoch, dass die Transgressivität der Zeichen für die Akteure selbst hochrelevant ist. Die Writer stellen häufig in Interviews heraus, dass das unerlaubte Handeln ein zentrales Merkmal des Writings darstellt, wie das folgende Zitat des Writers RESP1 belegt:

      Permission walls are fine, but bombing is definitely more of what graffiti is. Bombing is part of getting up [and] bombing is part of being a real writer. Doing things illegally, things that are challenging [are] a part of it all […]. You wouldn’t really be a writer without doing those things. If you just did permission walls you would just be a muralist, which doesn’t really have anything to do with graffiti. (RESP1 zitiert in JONES 2007: 5)

      Wie RESP1 herausstellt, werden legal arbeitende Writer in der Szene mitunter nicht respektiert. TIMER aus Montreal berichtet im Interview mit RAHN (2002: 110) sogar, wie sich ein Freund von ihm abwandte, als er mit der kommerziellen Vermarktung seiner Kunst erfolgreich wurde: „We met and started doing some cool stuff until ’95 and then he got really known like me, but was saying to everyone that TIMER is an artist and I hate artists – stuff like that.“ (TIMER zitiert in RAHN 2002: 110) An diesen Aussagen zeigt sich, dass das illegale Handeln – also das bewusste Herstellen transgressiver Zeichen – zum Selbstverständnis der Szene gehört. Das Szenegraffiti ist somit untrennbar mit Illegalität verbunden, was es von allen anderen Formen der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum unterscheidet (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 180).3

      Ob Graffiti jedoch adäquat als „visuelle[s] Kampfspiel auf und um die Flächen der Stadt“ (2014: 454) beschrieben werden kann, wie KAPPES in ihrem Aufsatz „Graffiti als