Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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„in erster Linie auf die Verewigung selbst und auf deren gute Rezipierbarkeit und nicht so sehr auf den sakralen und profanen Charakter des besuchten Ortes ankam“ (2002: 59). Interessanterweise ist es somit auch im Mittelalter der Name, der an öffentlichen Orten eingeritzt wird. Da im Mittelalter der Großteil der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, kann allerdings davon ausgegangen werden, dass derartige Einritzungen nur von einigen wenigen Adeligen und Mönchen vorgenommen wurden.

      Bei einem weiten Graffitiverständnis umfasst diese Bezeichnung auch politische Parolen und Bilder wie etwa den Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, der um 1789 auf viele Kirchen- und Rathausfassaden angebracht wurde (STAHL 1989: 22). Auch aus dem 20. Jahrhundert ist die illegale Anbringung von Zeichen überliefert: An vermehrten Anbringungen des Hakenkreuzes vor 1933 in den Großstädten lässt sich etwa die Verbreitung der nationalsozialistischen Bewegung nachvollziehen. Das Hakenkreuz wurde bereits anonym im städtischen Raum angebracht, lange bevor es sich zum offiziellen Symbol entwickelte (STAHL 1989: 29).2

      Dieser Überblick zeigt auf, dass die Wand bereits seit 40000 Jahren als Beschreibfläche genutzt wird. Die In- und Aufschriften haben dabei gemein, dass sie ortsfest sind, prinzipiell die Öffentlichkeit adressieren, mehr oder weniger unautorisiert angebracht sind3 und die Produzenten anonym bleiben. Mit den Formen des Szenegraffitis lassen sich Höhlenmalerei, mittelalterliche Inschriften und politische Schriftzüge des 20. Jahrhunderts allerdings nur schwer in eine Traditionslinie stellen. Das Szenegraffiti, das sich in seiner auffälligen Bildlichkeit und in seiner Bindung an eine soziale Gruppe von den hier dargestellten Formen unterscheidet, entwickelte sich erst in den 60er-Jahren in den USA.

      2.2.2 Die Entwicklung des Szenegraffitis in den USA

      Der Ursprung des Szenegraffitis liegt in den USA (REINECKE 2012: 28). Obwohl heutzutage New York als „Hauptstadt“ des Graffitis gilt, entstanden die ersten Werke weiter südlich in Philadelphia (WACŁAWEK 2012: 12). Dort begannen Jugendliche Mitte der 60er-Jahre damit, sich selbstgewählte Namen zuzulegen und diese an die Wände zu schreiben. Writer wie COOL EARL und CORNBREAD werden in vielen Werken als Pioniere des modernen Graffitis genannt (vgl. dazu REINECKE 2012: 28, WACŁAWEK 2012: 12). Diese Tätigkeit wird als „moderne“ Form des Graffitis bezeichnet, weil der Fokus der Writer im Gegensatz zu früheren Formen von Wandbeschriftungen auf der Bekanntmachung des eigenen Pseudonyms liegt. Somit steht von Anfang an der Name im Zentrum des Szenegraffitis.

      Neben Philadelphia tauchten kurze Zeit später auch in New York erste Graffitis auf. Als erste Akteure werden dort in den Jahren 1968/1969 JULIO 204 und THOR 191 genannt (KREUZER 1986: 109). Der New Yorker Erzieher KOHL berichtet jedoch bereits im Frühjahr 1967 in seinem Essay „Names, Graffiti and Culture“ von einem Schüler, der zwar kaum lesen und schreiben kann, aber mit anderen Jugendlichen regelmäßig seinen Namen an Hauswänden hinterlässt.

      We became closer and Johnny became more relaxed during lessons. He seemed more like the Johnny I’d observed on the streets. […] Once I asked him why he put his names on the walls of buildings in the neighbourhood. He replied: “Because all the kids do”. (KOHL 1969: 27)

      Die Aussage des Schülers lässt vermuten, dass die ersten Jugendlichen schon weitaus früher ihren Namen auf Wände schrieben und sich das Szenegraffiti 1967 – zumindest in einigen Bereichen – bereits etabliert hatte. Der 14-jährige Schüler zeigte KOHL eine Hauswand, die nach eigener Aussage seit mindestens fünf Jahren von Jugendlichen beschriftet wurde (KOHL 1969: 27).

      Einer der bekanntesten Writer dieser Frühphase ist TAKI 183, dessen Name in nahezu jeder Publikation zur Geschichte der Graffitiszene genannt wird (vgl. dazu etwa KREUZER 1986: 109 und BEHFOROUZI 2006: 16). TAKI 183 lebte in Manhattan, Washington Heights, war jedoch durch seine Arbeit als Botenjunge in der ganzen Stadt unterwegs und verbreitete dabei auch seinen Spitznamen (COOPER UND CHALFANT 1984: 14). Am 21. Juli 1971 erschien in der „New York Times“ der Artikel „Taki Spawns Pen Pals“, der über das neue Phänomen berichtete und TAKI 183 über Nacht stadtbekannt machte (COOPER UND CHALFANT 1984: 14). Auch andere Jugendliche verbreiteten daraufhin ihren Namen im Stadtbild, um über das Anbringen ihres Pseudonyms auf sich aufmerksam zu machen (COOPER UND CHALFANT 1984: 14).1

      Über das Leben dieser ersten Writergeneration im New York der 60er- und 70er-Jahre lässt sich sagen, dass es stark beeinflusst war vom Wiederaufbau und den städtischen Erneuerungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie von Diskriminierung und Arbeitslosigkeit (SCHNEIDER 2012b: 149). Der Wiederaufbau bedeutete für die Bürger massive Eingriffe in ihre Lebenswelt, war etwa auch mit Zwangsumsiedlungen und der Zerstörung von betrieblichen Netzwerken verbunden (SCHNEIDER 2012b: 150). Die Jugendlichen sahen sich mit steigenden Arbeitslosenraten konfrontiert und hatten wenig Zukunftsperspektiven bzw. Möglichkeiten, diesem schwierigen Umfeld zu entkommen (WELZ 1984: 192). Unter diesen Lebensumständen kam es vielfach zur Bildung von Gangs.2 Mit diesen Zusammenschlüssen grenzten sich die Jugendlichen nicht nur von ihrer Elterngeneration ab, sondern richteten sich auch gegen das gesellschaftliche System, von dem sie systematisch ausgeschlossen wurden (SCHNEIDER 2012b: 150). Die Rivalität zwischen den Gruppen und steigende Delinquenz entwickelte sich zunehmend zum Problem für New York (SCHNEIDER 2012b: 150).

      In diesem konfliktreichen Umfeld bildete sich das Netz der Graffitiwriter sprunghaft aus. Den Namen an die Wand zu schreiben, wurde zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen und der Wettbewerbsgedanke trieb die Entwicklung neuer Formen und Techniken voran. Von den Gangaktivitäten, die sich gleichzeitig abspielten, ist Graffiti verschiedenen Quellen zufolge jedoch abzugrenzen. Wie SCHNEIDER herausstellt, hatten die Graffitiwriter „kein konkretes, eingegrenztes Territorium zu verteidigen“ und die „[C]rews waren locker organisiert, ohne Hierarchie, ohne ,Uniform‘ und vor allem ohne Waffen“ (SCHNEIDER 2012b: 150).

      In der zügig wachsenden Szene konnten nur diejenigen Writer bekannt werden, die durch einen besonderen Stil aus der Masse hervorstachen. SUPERKOOL verhalf es 1972 beispielsweise zu Ansehen, dass er die Kappen anderer Dosen verwendete und der Farbstrahl damit eine größere Reichweite erzielte. Er soll so als Erster große Buchstaben gemalt haben, die er anschließend mit einer zweiten Farbe umrandete, was ihm den Status „Erfinder des Masterpieces“ einbrachte (SNYDER 2009: 24, BEHFOROUZI 2006: 17). Die Namen konnten dadurch zunehmend größer gesprüht werden. Auch weitere stilistische Innovationen sind eng mit den Namen ihrer Erfinder verknüpft. PHASE II aus der Bronx sprühte besonders große, aufgeblasen wirkende Buchstaben und nannte dieses Design „Bubble Style“ (CASTLEMAN 1989: 56). PISTOL I hatte ebenfalls einen großen Einfluss auf die Szene, indem er als Erster 3-D-Buchstaben entwarf. Seine Idee, die Buchstaben mit einem blauen Band zu umranden und so eine dreidimensionale Wirkung zu erzeugen, sorgte in der Szene für eine stilistische Revolution, wie der Writer FRED erzählt:

      Writers came from all over the city to see it. It was the talk of the town for a while because everyone wanted to do one, but they couldn’t conceive of being able to do it. Pistol must have practised on paper for a long time to get it down. After a while, though, people started to try it, and then everybody was doing it, improving on it, adding touches of their own. (FRED zitiert in CASTLEMAN 1989: 56)

      Um einen neuen Stil zu sichten, fuhren die Writer demnach durch die ganze Stadt. Der neue Effekt wurde anschließend autodidaktisch auf Papier geübt, bis die Technik selbst an der Wand ausprobiert wurde. Der Aussage von FRED lässt sich außerdem entnehmen, wie schnell sich die Graffitiszene weiterentwickelt hat. Neue Styles wurden unmittelbar bemerkt, kopiert und weiterentwickelt. So ging beispielsweise der zunächst revolutionär wirkende 3-D-Stil innerhalb kürzester Zeit in das Repertoire vieler Writer ein.3

      In den 70er-Jahren rückte das New Yorker U-Bahn-Netz in den Fokus der Writer und es wurden zunehmend Bahnschächte und Züge bemalt. Die Züge waren sehr beliebt, weil der Name damit nicht nur an einem Ort verblieb, sondern stattdessen stundenlang durch verschiedene Stadtteile gefahren wurde (BEHFOROUZI 2006: 17). Die ersten Werke wurden noch auf den Fassaden unterhalb der Zugfenster angebracht, aber die Ausmaße der Werke nahmen ständig zu, bis sich die Werke sogar über die Außenfassaden ganzer Züge erstreckten (SNYDER 2009: 24).4 Die U-Bahn-Stationen dienten den Akteuren darüber hinaus als Treffpunkte, „an denen sie die Subways beobachteten und Neuigkeiten aus der Szene austauschten“ (HOMBERGER