Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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80er-Jahre ging die Ära des Zugmalens wegen anhaltender Gegenmaßnahmen der Manhattan Transit Authority (MTA), der Stadt und der Polizei zu Ende (SNYDER 2009: 147f.). Ab 1989 wurden bemalte Züge nicht mehr im Verkehr eingesetzt, sondern sofort in spezielle Reinigungstätten gefahren (SNYDER 2009: 148). Dieses Vorgehen, so die Überlegungen, hemme die Motivation der Künstler.5 Ferner wurde das nächtliche Zugsprayen immer gefährlicher, weil die U-Bahn-Polizei die Betriebshöfe massiv bewachte und die Writer verfolgte. Bei den Fluchten kamen die Writer mitunter sogar ums Leben, weil sie das unter Starkstrom stehende dritte Gleis berührten (STAHL 1989: 50). Der Plan der MTA ging dadurch auf: Die U-Bahnen wurden weitaus weniger besprüht. Die Writer suchten sich dafür alternative Oberflächen im öffentlichen Raum.

      Die Szene nutzte auch immer stärker das Medium der Fotografie, um den eigenen Namen zu verbreiten (SNYDER 2009: 31, 148). So wurden Graffitis zunehmend in den neu aufkommenden Zeitschriften veröffentlicht, was es möglich machte, die Werke losgelöst von Ort und Zeit zu betrachten (SNYDER 2009: 31). Man kann sagen, dass diese Entwicklung stark zur Globalisierung der Graffitiszene beigetragen hat, weil sich durch die Fotografie nicht nur Akteure regional und überregional besser vernetzen konnten, sondern auch der weltweite Austausch der Stilrichtungen und weiterer Innovationen vorangetrieben wurde (SNYDER 2009: 31f.).

      Die Popularität des Graffitis nahm weiter zu, als es zu einem Bestandteil der Hip-Hop-Bewegung wurde (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 182). Der Hip-Hop-Kultur, die in Amerika in den 80er-Jahren populär wurde, werden die vier Elemente Rapping, Deejaying, Breakdancing und Graffitiwriting zugeschrieben. Durch Filme und Bücher, erste Ausstellungen und Vereinigungen6 sowie die zunehmende Bekanntheit der Rapmusik wurde Hip-Hop auch über Amerika hinaus bekannt (HOMBERGER 2008: 91).7 Zu nennen sind hier insbesondere der Film „Wild Style“ (1983), der preisgekrönte Dokumentarfilm „Style Wars“ (1985) und die Hollywoodproduktion „Beat Street“ (1984), die einen großen Empfängerkreis erreichten und Graffiti, Rap und Breakdance auch in Europa bekannt machten.

      Der Bekanntheitsgrad von Graffiti steigerte sich insbesondere durch den kommerziellen Erfolg der Rapmusik. Die Musikbranche, die sich als lukrativste der vier Säulen erwies, benötigte zur besseren Vermarktung eine visuelle Darstellung, die möglichst neu und hip sein sollte (WACŁAWEK 2012: 57). Wegen ihrer besonderen bildlichen Ästhetik, aber auch der Assoziationen von Illegalität und Rebellion waren die Sprühwerke für die Vermarktung der Hip-Hop-Kultur gut geeignet; Graffiti lieferte quasi die passenden Bilder zur Musik (WACŁAWEK 2012: 57). Künstlerische und musikalische Inhalte wurden daher auch zusammen präsentiert und vermarktet. WACŁAWEK spricht diesbezüglich sogar von einer Ausbeutung des Graffitis mit dem Zweck, Hip-Hop-Produkte von der CD bis zum T-Shirt zu verkaufen (2012: 58).

      Eng mit Graffiti verbunden ist auch die Tanzrichtung Breakdance. Die Bewegungen der Tänzer weisen Ähnlichkeiten zu den verformten, dynamisch wirkenden Buchstaben im Graffiti auf. Der Writer FRED sagt dazu im Interview mit LUTZ beispielsweise Folgendes: „Graffiti and Break Dancing are related – your letters look like the break dancers; colors coming in and out, moving here and there.” (FRED zitiert in LUTZ 2001: 104) Ähnlich äußert sich auch der Mannheimer Writer MIKE: „Der Buchstabe muss tanzen. Der muss eine Dynamik haben wie ein Tänzer.“ (MIKE zitiert in RODE 2016: 63) Zwischen der Musik, den Graffitis und den Bewegungen des Breakdance bestehen demzufolge Parallelen. Nichtsdestotrotz wird Graffiti heute weitestgehend als eigenständige Szene wahrgenommen.8

      2.2.3 Die Entwicklung einer Szene in Europa

      Wie bereits erläutert, werden insbesondere Graffitifilme wie „Wild Style“ (1983) und „Style Wars“ (1985) sowie Publikationen wie „Subway Art“ (1984) für die Verbreitung des Szenegraffitis in Europa verantwortlich gemacht (REINECKE 2012: 29). Auch Reisende, die im Anschluss an ihre New-York-Besuche in ihren europäischen Heimatstädten sprühten, trugen zur wachsenden Popularität des Szenegraffitis bei (GALLE spiegel.de 2011). Darüber hinaus soll der Aufbau von Writer-Netzwerken auch durch die erschwinglichen Interrailtickets der Bahn forciert worden sein (GALLE spiegel.de 2011). So konnten die Sprüher in die Metropolen der Nachbarländer reisen, sich dort vernetzen und mit diesen neuen Kontakten anschließend Fotos austauschen. Es entstanden auch erste Graffitimagazine.1

      In den 80er-Jahren verbreitete sich das Phänomen Graffiti in nahezu jeder europäischen Großstadt, wobei den nordeuropäischen Ländern wie den Niederlanden und Deutschland dabei eine Vorreiterrolle zugekommen sein soll (GALLE spiegel.de 2011). DOMENTAT berichtet über die Anfänge der Szene in Berlin und schreibt, dass die ersten Graffitis dort zu Beginn der 80er-Jahre auftauchten (1994a: 24). Zum beliebten Objekt wurde die Berliner Mauer, die bis 1987 fast vollständig bemalt gewesen sein soll (WALDENBURG 1993: 14).2 Bis zu ihrem Fall bildete sie einen wichtigen Treffpunkt der jungen Szene (DOMENTAT 1994a: 25). Während die Akteure zunächst allein oder zu zweit arbeiteten, bildeten sich in Berlin Ende der 80er-Jahre die ersten Crews (DOMENTAT 1994a: 24). Auch in anderen deutschen Großstädten wie München und Dortmund erschienen erste Graffitis, entwickelten sich lokale Szenen und erste Writergemeinschaften (BEHFOROUZI 2006: 24). In München tauchten erstmals 1984 Graffitis an S-Bahnen auf; der erste vollbesprühte Zug (Whole Train) Europas soll 1985 in München eingefahren sein (KREUZER 1986: 225).

      Ein gesteigertes Interesse am Phänomen Graffiti ist sicherlich auch auf Personen wie Harald Naegeli, Gérard Zlotykamien und Blek le Rat zurückzuführen, die schon den öffentlichen Raum für Zeichnungen genutzt hatten, bevor das Szenegraffiti aus Amerika populär geworden war (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 97).3 Harald Naegeli hatte bereits 1977 in Zürich mit seinen figürlichen Zeichnungen, die sich oft „gezielt auf die städtische Umwelt“ bezogen, für Aufmerksamkeit gesorgt (STAHL 1989: 63).4 In Frankreich wurden Gérard Zlotykamien und Blek le Rat aktiv, die Zeichnungen und Schablonenarbeiten im öffentlichen Raum anbrachten (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 97). Naegeli, Zlotykamien und Blek fertigten zwar primär figürliche Werke an – was im Kontrast zu der Praktik des Szenegraffitis steht, den eigenen Namen zu verbreiten –, durch sie wurde illegale Kunst im öffentlichen Raum jedoch stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt, weshalb ihr Schaffen „ebenfalls als Teil der Geschichte des modernen Graffiti“ angesehen werden kann (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 97).

      2.2.4 Graffiti und Street Art

      Bei Street-Art handelt es sich um eine relativ neue Bezeichnung, die ganz verschiedene „visuelle […] Ausdrucksformen ‚inoffizieller‘ Besetzung durch Zeichen und Codes auf den Oberflächen des urbanen Raums“ umfasst (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 58).1 REINECKE zitiert in ihrer Arbeit den Street-Art-Künstler 56K, der Street-Art als eine Szene beschreibt, „wo die Leute gemeinsam haben, dass alle sehr unterschiedlich sind. Viele kommen aus dem Writing oder kennen diese Subkultur sehr gut“ (56K zitiert in REINECKE 2012: 113). Aus dieser Aussage lässt sich bereits ableiten, dass verschiedene Praktiken zur Street-Art gezählt werden und es starke Bezüge zur Graffitiszene gibt.

      Die Übergänge zwischen Graffiti und Street-Art sind fließend, was sich auch daran zeigt, dass sowohl in den Szenen selbst als auch in der Forschung immer wieder diskutiert und ausgehandelt wird, was als Graffiti und was als Street-Art gelten kann. Der Graffitiforscher SIEGL fasste Street-Art in seinem Eintrag in der BROCKHAUS-Enzyklopädie aus dem Jahr 2006 noch als Hyperonym für den „gesamte[n] Bereich sowohl offizieller als auch inoffizieller, häufig temporärer künstler. Arbeiten im öffentlichen Raum“ auf (BROCKHAUS-Enzyklopädie 2006: 460). In dieser Perspektive stellten Graffitis – genauso wie Sticker, Straßenmalerei sowie Plakat-, Schneide- und Klebearbeiten – eine Ausprägung der Street-Art dar. 2009 betrachtet SIEGL seine Definition jedoch als überholt und formuliert sie folgendermaßen um:

      Inzwischen […] steht der Begriff Street-Art für ein eigenes […] Genre der bildenden Kunst: es gibt Street-Art-Passagen, Street-Art-Galerien etc., in denen käufliche Werke zur Schau gestellt werden. (SIEGL graffitieuropa.org 2009)

      Graffiti und Street-Art gelten in dieser aktualisierten Definition als eigenständige Formen; erstere Form also nicht mehr als Subkategorie der Street-Art.

      Nach REINECKE hat sich die Street-Art aus dem Graffiti entwickelt: Viele Writer der ersten Generation, die in den 80er- und 90er-Jahren aktiv waren, fürchteten mit dem Eintreten