Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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98). Die Writer taggen dementsprechend auch die Namen verschiedener Crews.12 Trotz Crewzugehörigkeit arbeiten die Akteure auch allein – sie sind bei ihren Aktivitäten nicht an die Gruppe gebunden (SCHNEIDER 2012a: 24). Die Mitglieder der Crews bilden mitunter enge soziale Bindungen aus, was etwa die folgende Aussage des Berliner Writers KOSEM anzeigt, der im Interview auf die Frage antwortet, was ihm seine Crew CRN bedeute:

      Na, so wie es bei den meisten ist, ist die Crew mehr für einen, als nur 3 Buchstaben die man neben das Bild malt. Mittlerweile bin ich auch 10 Jahre bei CRN und ich hoffe es werden mindestens nochmal 10. Man identifiziert sich ja irgendwo damit.. Und die Jungs werden mir auch von Jahr zu Jahr symphatischer! (KOSEM auf ilove-graffiti.de 2012)

      Nach TAYLOR ET AL. können die Mitglieder ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln, was wiederum zu einer Anhäufung von „social capital resources“ führt (2016: 196). Unter „social capital resources“ verstehen die Autoren in Bezug auf die Graffitiszene den andauernden Zugang zu „sociological support networks“, der für eine starke Bindung der Crewmitglieder untereinander sorgt und sie erfolgreich als eine Einheit agieren lässt (2016: 196). Daraus schlussfolgern sie,

      that the receipt of social capital support resources not only enhances crew members’ sense of place affinity and sense of belonging, but also their psychological sense of wellbeing. Specifically, by providing the archetypical types of social capital support resources (e.g. reciprocal trust, information sharing, social engagement networks, camaraderie and protection) crews provide their members with an increased sense of purpose, self-worth and group identity […]. (TAYLOR ET AL. 2016: 196)

      Die Crewmitglieder können dadurch sogar den Status einer Ersatzfamilie erlangen.13 Dies wird auch dadurch deutlich, dass sie sich – wie Familien in der bürgerlichen Welt – einen gemeinsamen Namen teilen (SCHNOOR 2005: 88). Häufig taggen die Mitglieder ihren Individualnamen und den Crewnamen nebeneinander, was an die Zweigliedrigkeit des bürgerlichen Namensystems aus Ruf- und Familiennamen erinnert (s. Abb. 7).

      Abb. 7: Individualname und Crewname werden oft zusammen getaggt (21739, 21769).

      Der Zusammenschluss der Writer zu „Communities of Practice“ bietet auch den Vorteil, dass die Mitglieder arbeitsteilig vorgehen können und ihre Fähigkeiten somit zusammenführen. Großflächige Throw Ups und Pieces entstehen dadurch in kürzerer Zeit, was den Bekanntheitsgrad der jeweiligen Crew steigert. Außerdem können sich die Mitglieder bei Aktionen gegenseitig schützen. Die Mitglieder einer Crew werden in den Graffitis auch häufig gegrüßt, indem ihre Namen um den zentralen Schriftzug herum geschrieben werden (vgl. hierzu Abschnitt 7.5.1). Dass es sich dabei um Grüße handelt, markieren Wörter wie „YO“ oder „TO“, was alternativ oftmals als „2“ realisiert ist.

      Abb. 8: Grußlisten in Throw Ups bzw. Pieces von 12 (28206) und KORMA (31150), jeweils links neben dem flächig ausgestalteten Namen im Zentrum platziert

      Bei Arbeiten im Kollektiv müssen sich die Mitglieder vorher allerdings absprechen und auf die Aufgabenverteilung einigen. Der Writer MENK von den RADICALS aus Leipzig erklärt im Interview mit „Backspin“, wie eine derartige „Aktion“ abläuft:

      Bei jeder Aktion versuchen wir vorher alles genau abzusprechen und zu planen, damit das Ganze möglichst professionell und zügig über die Bühne geht. Wir verteilen klare Aufgaben wie Vorziehen, Füllen, Cutten, Backline etc. (MENK in Backspin 87/2007: 59)

      Die Aussage von MENK deutet darauf hin, wie gut organisiert Crews bei ihren illegalen Aktivitäten vorgehen.

      Darüber, wie viele Akteure bei derartigen Aktionen zusammenwirken und aus wie vielen Writern eine Crew besteht, finden sich in der Literatur nur einige wenige Angaben. TAYLOR ET AL. beziehen sich primär auf die amerikanische Szene und geben an, dass es kleine Crews mit zwei bis fünf Mitgliedern, große Crews mit 20 bis 50 Zugehörigen und sehr große Crews mit 50 bis 100 Personen gibt (2016: 195f.). SCHNEIDER schreibt, dass die Personenzahl der Crews stark variiert und zwischen fünf und 20 Personen liegen kann (2010: 75).14 Nach KARL, der sich auf die deutsche Szene der 90er-Jahre bezieht, gibt es auch Gruppen mit nur zwei Mitgliedern (1986: 47). Selbst Szeneangehörigen fällt eine Schätzung schwer, wie die folgende Aussage des Writers Jörg zeigt:

      Innerhalb der lokalen Szenen gibt es […] Crews, das sind, was weiß ich, 10, 20 Leute, die dann unter ihre eigenen Bilder noch ein paar Namen von den Leuten aus der Crew setzen […]. (Writer Jörg zitiert in HITZLER ET AL. 2005: 109)

      Diese unterschiedlichen Aussagen deuten darauf hin, dass Crews in ihrer Größe und in ihrer Bestandszeit sehr variabel sind.

      2.3.3 Soziale Szenestrukturen

      Da die Writer illegal agieren, gibt es kaum Informationen zur sozialen Zusammensetzung der Szene. Anhaltspunkte über Altersstrukturen, Milieuzuschreibungen und Geschlechtsspezifika stammen überwiegend aus qualitativen Studien mit Writern oder ausführlicheren Erfahrungsberichten von Writern selbst. So findet sich beispielsweise bei KARL, der ehemals selbst unter dem Pseudonym STONE aktiv war, eine Einschätzung zu den durchschnittlichen Altersstrukturen der Writer: Er gab 1986 aus eigener Erfahrung 13 bis Mitte 20 als Alter der Akteure an (KARL 1986: 41). Die Mannheimer Ermittlungsgruppe Graffiti nennt 1999 17 bis 23 als durchschnittliches Alter der Akteure, wobei die untere Grenze bei zehn Jahren, die obere Grenze bei etwa 25 Jahren liege (WILLMS 1999: 6).1 Diese Angaben beziehen sich allerdings eher auf die Anfangszeit der deutschen Szene. Etwas aktuellere Erkenntnisse liefern RHEINBERG UND MANIG 2003. In einer in Deutschland durchgeführten Studie zu den Anreizen des Graffitisprühens ergab sich bei 294 Probanden ein Altersmittel von 18,82 Jahren, wobei der jüngste Akteur 14 und der älteste 34 Jahre als Alter angab (RHEINBERG UND MANIG 2003: 230).2 SCHNEIDER stellt 2010 fest, dass der Großteil der Akteure zwischen 14 und 25 Jahre alt ist (71f.). Auch wenn sich mit diesen Angaben nur vorsichtige Tendenzen für die aktuelle Zusammensetzung der Szene formulieren lassen, so zeichnet sich dennoch das Bild ab, dass aktive Writer typischerweise im Teenager- oder im jungen Erwachsenenalter sind. Ältere Writer verabschieden sich oftmals vom illegalen Writing und halten sich stattdessen an legale Wände oder sie vermarkten ihre Werke sogar als Auftragsarbeiten auf dem Kunstmarkt (SCHNEIDER 2010: 72).

      Über die Geschlechterverteilung in der deutschen Szene gibt es meines Wissens keine aktuellen Studien. Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt 1999 an, dass männliche Jugendliche „mit mehr als 90 % den Hauptteil der aktiven Szene ausmachen“ (WILLMS 1999: 5). Auch qualitative Interviews aus den 90er-Jahren ergeben eine deutliche Dominanz männlicher Sprüher. So ist in DOMENTAT 1994b zu lesen, dass es in der deutschen Szene nur wenige Frauen gibt. Zudem hätten die Sprüherinnen in der Szene teilweise einen schweren Stand. Einige Sprüherinnen stellten zwar auch heraus, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern bemerkt zu haben, andere sprachen vor DOMENTAT jedoch von Aktionen der männlichen Sprüher, die sie in den lokalen Szenen gezielt ausgrenzen sollten (DOMENTAT 1994b: 72f.).3

      Umfassendere Erkenntnisse gibt es zu Frauen in den Londoner und New Yorker Szenen.4 2001 erschien MACDONALDS ethnographische Studie „The Graffiti Subculture: Youth, Masculinity and Identity in London and New York“, in der sie die männliche Dominanz in der Graffitiszene herausstellt und nach Erklärungsansätzen sucht.5 MACDONALD zeigte dabei u.a. auf, dass junge Frauen in stereotype Rollenklischees gedrängt werden, die sie als „timid, delicate little thing with absolutely no fear threshold and a tendency to burst into tears at the slightest hint of danger“ darstellten (2001: 130). Sich von diesem Bild zu befreien, habe sich für die jungen Frauen als schwierig erwiesen. Insgesamt stellte MACDONALD heraus, dass die männlichen Sprüher primär anhand ihrer Graffitis beurteilt worden sind, während bei den weiblichen Sprüherinnen auch stark das Erscheinungsbild bewertet wurde: „[M]ale writers tend to pay more attention