Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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      Dass an der Hauswand Ecke Jahnstraße und Berliner Straße trotz hoher Öffentlichkeitswirksamkeit keine Graffitis vorhanden sind, erklären HARDING ET AL. mit dem Vorhandensein eines Lokals im Erdgeschoss: Es erhöhe für die Writer die Gefahr, beim Sprühen erwischt zu werden (2009: 34).

      Als höchste Auszeichnung gilt in der Szene die Ernennung zum King. Als Kings werden im American Graffiti die Akteure bezeichnet, die sowohl durch die Quantität als auch die Qualität ihrer Werke besonders überzeugen (COOPER UND CHALFANT 1984: 54). Um diesen Status zu bewahren, müssen die Akteure ständig neue Graffitis produzieren. Aus diesem Grund ist die Bezeichnung in der Szene nicht unumstritten. Der Berliner Writer BISAZ kritisiert etwa, dass bei hoher Quantität die Qualität der Graffitis leide:

      Das ganze „King“-Gelabere finde ich Quatsch, weil es dabei nur um Quantität geht. Qualität ist heute wichtiger als Quantität. Beim Whole Car heißt das vor allem, Proportionen zu beachten, man kann z.B. nicht unterschiedlich dicke Balken machen, und die Grundstrukturen der Buchstaben müssen immer erkennbar bleiben. Was bringt es, wenn viele schlechte Züge fahren, wir müssen auch an unseren Ruf als Aerosol-Künstler in der Öffentlichkeit denken. (BISAZ zitiert in DOMENTAT 1994a: 33)

      Der Kingstatus war in den Anfangsjahren in den USA mit bestimmten Sonderrechten verbunden: Die Kings durften beispielsweise eine Krone über ihr Tag malen (SNYDER 2009: 119). Es lässt sich allerdings kaum beurteilen, ob die Auszeichnung als King für die deutsche Graffitiszene überhaupt noch relevant ist. REINECKE gibt an, dass der Kingstatus in den 70er- und 80er-Jahren verliehen worden ist (2012: 33). In den von SCHMITT UND IRION durchgeführten Interviews sprachen die Probanden hingegen auch noch Ende der 90er-Jahre von Kings.

      Eine aktuelle ethnographische Studie von EISEWICHT (2016) deutet darauf hin, dass die relativ strengen Graffitiregeln und Hierarchien, die in der Literatur zum American Graffiti betont werden, für die deutsche Szene weniger relevant geworden sind. Durch seine ethnographische Forschung kann EISEWICHT die Vorstellung einer sehr an Hierarchien und Regeln orientierten Graffitiszene relativieren. Für die Akteure selbst gehe es viel weniger darum, wer King oder Toy ist (EISEWICHT 2016: 111).4 Stattdessen standen bei den Gesprächen unter Writern vielmehr Fragen um Styles, Aktionen, geeignete Orte und mögliche Kooperationen im Vordergrund:

      Im Vergleich zu vielen Außenbeschreibungen und Fremdzuschreibungen zeichnet sich die Szenezugehörigkeit v.a. durch eine pragmatische Haltung aus. Wichtig ist, was man braucht, was man wissen und können muss und von anderen Writern aus darf, um ein Graffiti zu machen – und das Interesse an Graffiti, an Orten dafür und an anderen Writern – dies macht die Zusammengehörigkeit in der Szene aus. (EISEWICHT 2016: 111f.)

      Die Szene hat durchaus ihre eigenen Regeln – das zeigen verschiedene Studien zur deutschen Szene (vgl. dazu SCHNEIDER 2012a: 27ff., SCHIERZ 2009: 247ff.) und Aussagen der Akteure in Szenemagazinen. Allerdings scheinen einige Traditionen und Regeln, die in der Literatur zum American Graffiti ausführlich dargestellt werden, für die Lebenswelt heutiger Sprüher weniger von Bedeutung zu sein. Darauf deutet etwa auch die Antwort der Berliner Crew 1UP auf die Frage hin, worum es ihnen beim Graffitimachen eigentlich geht: „Die graue, durchkommerzialisierte Welt ein wenig bunt zu gestalten und mit Freunden eine geile Zeit verbringen […]. Adrenalin ist zwangsläufig mit dabei. Fame kommt ganz von alleine.“ (1UP in Juice 141/2012: 76)

      2.3.6 Zusammenfassung

      In diesem Abschnitt wurde der soziokulturelle Hintergrund beschrieben, vor dem Graffitinamen entstehen. Dafür wurde die Szene mit ihren Umgangsformen, Traditionen, Regeln und Werten in den Blick genommen. Es wurde beschrieben, dass die Professionalisierung der Szeneaktivitäten typischerweise in der Gemeinschaft erfolgt, d.h., die Neulinge entwickeln sich durch die Beobachtung und die Teilhabe an den Crewaktivitäten weiter. So lernen sie zunächst Normen und Traditionen der Szene kennen, bevor sie selbst aktiv werden und so zunehmend – indem sie zu vollwertigen Mitgliedern der „Community of Practice“ werden – eine Identität als Graffitiwriter entwickeln. Durch dieses Lehr-Lern-System können das szenetypische Vokabular, die Styles und Techniken seit über 50 Jahren an den „Nachwuchs“ weitergegeben werden.

      In diesem Kapitel wurde ebenfalls aufgezeigt, dass man bei einer Beschäftigung mit der Graffitiszene unweigerlich zum Thema dieser Arbeit – den Graffitinamen – gelangt. Viele Sinnschemata der Szene sind eng mit dem Namen verknüpft. So ist Style ein wichtiger Szeneterminus – und gestylt wird der Name. Darüber hinaus zielt das Writing auf Bekanntheit ab – und dies erfolgt über das Anbringen des Namens. Das szenetypische Vokabular orientiert sich wie selbstverständlich an Größe, Position und Gestaltung der Werke, weil inhaltliche Differenzierungen für die Szene viel weniger relevant sind: Gesprüht wird der Name. In den nächsten Kapiteln richtet sich der Blick folgerichtig auf die Namen.

      3. Namen

      Wenn es um Namen geht, wird als Erstes an den eigenen Ruf- und Familiennamen gedacht. Zu diesen hat man in der Regel eine besonders enge persönliche Verbindung (DEBUS 2012: 11f.). Dass wir jedoch in unserem direkten räumlichen Umfeld mit einer Fülle an weiteren Namen konfrontiert sind, hat bereits der imaginäre Streifzug durch die onymische Landschaft einer Stadt in der Einleitung gezeigt – wobei es dabei lediglich um die sichtbaren, d.h. die schriftförmigen Namen ging. Tatsächlich sind noch weitaus mehr Objekte im alltagsweltlichen Lebensraum benannt. Bei dieser großen Bedeutung von Namen für den Menschen scheint es nur natürlich, dass Menschen bereits seit der Antike Überlegungen zum „Wesen“ der Namen anstellen.

      HOUGH schreibt in der Einleitung des „Oxford Handbook of Names and Naming“, dass die Onomastik eine junge und alte Disziplin zugleich ist (2016a: 1). Diese Äußerung klingt zwar paradox, trifft aber auf die Entwicklung der Namenforschung durchaus zu. Denn es handelt sich einerseits um eine sehr alte Disziplin, weil sich etwa schon die antiken griechischen Philosophen wie Platon, Aristoteles und Sokrates mit der Referenzweise von Namen beschäftigt haben (HOUGH 2016a: 1). Die Namenforschung ist andererseits aber auch eine junge Disziplin, weil viele Aspekte (z.B. die eigene Grammatik der Namen) und Namenarten (z.B. Tiernamen, Warennamen und Pseudonyme) erst in den letzten Jahrzehnten in den Blick gerieten.

      Das folgende Kapitel bietet eine Zusammenfassung und Diskussion der wichtigen onomastischen Theorien und Ergebnisse, die alle auf die eine oder andere Weise für die Beschäftigung mit Graffitinamen relevant sind. Dabei handelt es sich sowohl um ältere als auch um jüngere Erkenntnisse der Namenforschung. Einige der Grundlagen, z.B. die unterschiedliche Referenzweise von Name und Appellativ und die Frage nach der Semantik der Eigennamen, werden schon seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert.1 Im anschließenden Kapitel zu den Pseudonymen geht es hingegen insbesondere um die Erkenntnisse der jüngeren Onomastik, denn die linguistisch ausgerichtete Beschäftigung mit Pseudonymen hat erst in jüngerer Zeit eingesetzt.

      3.1. Positionierung im System der Sprache

      Namen sind sprachliche Zeichen: Sie setzen sich in alphabetischen Schriftsystemen aus Buchstaben zusammen, können geschrieben und gesprochen werden, können wie andere lexikalische Elemente aus anderen Sprachen entlehnt sein und unterliegen den Regeln der syntaktischen Verknüpfung (FLEISCHER 1992: 45).1 Im System der Wortarten gehören sie zu den Substantiven. NÜBLING ET AL. verorten sie zudem unter den Konkreta, wo sie in direkter Nachbarschaft zu den Appellativen (z.B. Tisch, Auto, Haus), Stoffbezeichnungen (z.B. Wasser, Holz, Öl) und Kollektiva (z.B. Familie, Herde, Adel) stehen (2015: 28).2 In DUDEN – „Die Grammatik“ wird jedoch darauf hingewiesen, dass es „nicht angemessen [ist], Eigennamen als eine Unterklasse der Konkreta zu betrachten“, weil auch Nichtgegenständliches, z.B. geschichtliche Ereignisse (der schwarze Freitag), benannt werden (2016: 150). Auch Namen für Naturphänomene wie Hochdruckgebiete oder tropische Wirbelstürme lassen sich kaum als Konkreta fassen. Allerdings lässt sich sagen, dass mit den Personennamen, Tiernamen, Ortsnamen und Objektnamen sicherlich der Großteil der Namen auf konkrete Objekte verweist.

      Namen weisen gegenüber den anderen Unterklassen der Substantive funktionale – und häufig auch formale – Besonderheiten auf.3 Insbesondere ihre