Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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in“) (VAN TREECK 2001: 384). Da die Herstellung mindestens zwei Arbeitsschritte erfordert, ist sie zeitintensiver als die eines Tags. Dies erhöht die Gefahr, bei den illegalen Aktivitäten erwischt zu werden. Der Vorteil gegenüber den Tags besteht hingegen in der eindrucksvolleren Wirkung, weil ein Throw Up in der Regel eine größere Fläche einnimmt.4

      Zwischen den drei Typen Tag, Throw Up und Piece gibt es viele Zwischenformen und die Zuordnung eines Graffitis zu dem einen oder anderen Typ ist oft keinesfalls eindeutig. Während sich Tags mit ihren linearen Buchstaben noch relativ klar von Throw Ups und Pieces mit flächigen Buchstaben unterscheiden lassen, kann eine Unterscheidung von Throw Ups und Pieces oft nur vage bleiben.

      Abb. 10: Throw Ups von 8BIT (29447), ZONK (31371) und HDF (30453)

      Neben den wichtigen Bezeichnungen Tag, Piece und Throw Up verwendet die Szene noch eine Vielzahl weiterer anglo-amerikanischer Termini, die mehrheitlich bereits seit den 80er-Jahren in Verwendung sind (vgl. dazu etwa den Glossar in COOPER UND CHALFANT 1984: 27). Bei der Entwicklung von Bezeichnungen zur Bezugnahme auf Techniken, Werke etc. wurden wenig neue Wörter gebildet und stattdessen Lexeme aus der Standardsprache verwendet und umgedeutet. Die Lexeme erhielten in der Graffitiszene eine neue Bedeutung, während sie außerhalb der Szene weiterhin mit ihrer ursprünglichen lexikalischen Bedeutung verwendet wurden. Beispiele für dieses Verfahren sind die Substantive King, Style, Fame, Crew und Writer sowie die substantivierten Verben Throw Up und Getting Up. Szenetypische Verben sind to bomb, was das massenhafte Anbringen des eigenen Namens bezeichnet, sowie to tag, was den Vorgang bezeichnet, den Namen im Stadtbild anzubringen (COOPER UND CHALFANT 1984: 27). To bite bezeichnet des Weiteren das Nachahmen eines fremden Styles, to buff meint die Entfernung eines Graffitis mittels chemischer Reinigung (COOPER UND CHALFANT 1984: 27).

      Das amerikanische Vokabular wurde zur besseren Vermittlung in Lexika gesammelt (vgl. z.B. die Lexika von KREUZER 1986 und VAN TREECK 1993, 1995, 2001). In den Lexika finden sich neben den bereits genannten Termini auch viele Komposita, die auf Graffitis auf unterschiedlichen Oberflächen und in unterschiedlichen Positionen auf Zügen referieren. Die Tätigkeit des Schreibens oder Sprühens auf Mauern und Wänden wird etwa als Wall Writing bezeichnet, Graffitis auf Zügen lassen sich anhand der eingenommenen Fläche in Whole Trains, End-to-Ends, Top-to-bottom Whole Cars und Window-Down Whole Cars weiter differenzieren (KREUZER 1986: 443).5 Das szeneinterne Bezeichnungssystem für Graffitis richtet sich somit nicht nach den inhaltlichen Eigenschaften der Werke, sondern nach deren Größe, Ausgestaltung und Positionierung. Eine inhaltliche Differenzierung – etwa in Wortgraffitis und Spruchgraffitis – ist für die Szene nicht relevant, weil es typischerweise der Name ist, der gesprüht wird.

      Auffällig ist, dass alle zentralen Bezeichnungen aus der englischen Sprache übernommen wurden und sich keine deutsche Terminologie entwickelt hat (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).6 Diese Übernahme deutet zum einen darauf hin, dass sich die Writer „in der Tradition des American Graffiti sehen“, und zum anderen zeugt die Verwendung englischsprachiger Termini auch von der internationalen Orientierung der Szene (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).7

      Bei vielen dieser szenetypischen Begrifflichkeiten lässt sich außerdem eine „aggressive Nuance“ ausmachen (STEINAT 2007: 28). Wörter wie biten (engl. bite ,beißen‘, steht in der Szene für das Kopieren von Stilen anderer Writer), racken (engl. rack ,foltern‘, ,quälen‘, ,plagen‘, in der Szene für das Stehlen von Sprühdosen) und crossen (engl. cross ,kreuzen‘, ,durchstreichen‘, in der Szene verwendet für das Übermalen von Graffitis anderer Writer) rufen Konnotationen von Gewalt und Illegalität auf. Szenebezeichnungen wie bomben (engl. to bomb), style wars (engl. ,Stil-Kriege‘, die ab 1973 in New York ausbrachen, als der Stil der Writer entscheidend für den Wettkampf um Ruhm wurde) und battle (engl. ,Kampf‘, in der Szene als Bezeichnung für Sprühwettbewerbe zwischen Sprühern oder Crews) erinnern beispielsweise an Kontexte wie die Kriegsberichterstattung.

      Graffitis sind in der Forschung zwar häufig als Mittel dargestellt worden, mit denen der urbane Raum annektiert wird (vgl. dazu etwa KAPPES 2014, SCHNEIDER 2012b),8 die „aggressive Nuance“, die sich in den Szenebezeichnungen findet, lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres für die Writer annehmen (TOPHINKE 2016: 426). Anspielungen auf kämpferische Handlungen und Gewalt finden sich zwar auch in den Kommentaren (Comments) um Pieces herum platziert (z.B. TRAINED 2 KILL! (31444), SHOOT TO KILL (30451)) – und auch viele Namen weisen eine aggressive Semantik auf (z.B. TUMOR, 30470). Nimmt man jedoch die szeneinterne Kommunikation in den Blick, so zeigt sich, dass diese Formen eher als Spiel der Szene mit den von außen zugeschriebenen Eigenschaften zu deuten sind – und nicht als Ausdruck echter Aggressivität (TOPHINKE 2016: 426).

      2.3.5 Hierarchien

      In der Literatur zum Thema Graffiti wird häufig auf den relativ strengen Verhaltenskodex und die hierarchische Ordnung der Szene verwiesen (vgl. dazu etwa REINECKE 2012: 32ff.). Diese Ordnung zeigt sich beispielsweise in Bezeichnungen wie Toy und King, die die beiden Endpunkte der Graffitihierarchie markieren. Insbesondere in den Publikationen zum amerikanischen Graffiti wird diese „Szeneordnung“ ausführlich beschrieben. MACDONALD erläutert beispielsweise, wie sich Szeneneulinge in London und New York an ungeschriebene Regeln zu halten haben: „Most activities in this subculture are regulated by unwritten, but recognized, rules, expectations and ethics, and the progression of a writer’s career is no exception.“ (MACDONALD 2001: 74f.)1 Writer steigen mit einfachen Tags ein und sprühen erst mit zunehmender Professionalisierung die anspruchsvolleren Formen Throw Ups und Pieces. Diese Phase des Lernens kann nicht übersprungen werden: „As a writer you’ve got to bomb up, you’ve got to go through your tagging years.“ (KILO zitiert in MACDONALD 2001: 75) Das auf Quantität abzielende Taggen, also das wiederholte Anbringen des eigenen Namens, ist ein zeitaufwendiges und anstrengendes Unterfangen, wie die Aussage des Writers STEAM belegt:

      A big part of it is getting known and once you’re known that’s it, but it takes a good long while to get known. You have to put tags up every single day … like, going out at night, putting your name up on walls, buses, trains, everywhere you can think of, until you get so well known, people wonder who you are. (STEAM zitiert in MACDONALD 2001: 76)

      Diese Erkenntnisse scheinen auch für die deutsche Graffiti-Szene zu gelten. VAN TREECK formuliert, dass die Szene „ihre eigenen Regeln“ hat (2003: 108).2 Prinzipiell gibt es – wie in den USA – zwei Möglichkeiten, wie ein Writer auf sich aufmerksam machen kann: Entweder er sprüht besonders viele Tags und punktet in der Szene durch Quantität oder er perfektioniert seinen Style und wird durch die Qualität seiner Graffitis bekannt (VAN TREECK 2003: 105f.).3 Eine Kombination von Quantität und Qualität führt am schnellsten zu Anerkennung in der Szene.

      Einfluss auf das Ansehen eines Writers hat auch der Ort, an dem die Graffitis angebracht werden. Graffitis erscheinen im Stadtbild nicht willkürlich, sondern bevorzugt an gut sichtbaren Flächen und an stark frequentierten Orten. Besonders beliebt sind Oberflächen entlang der Hauptverkehrslinien, wie Autobahnbrücken und Lärmschutzmauern (STEINAT 2007: 19). HARDING ET AL. überprüften diese These anhand einer empirischen Untersuchung und stellten fest, „dass Graffiti[s] verstärkt an Orten auftreten, die von vielen Menschen eingesehen werden können“ (2009: 35). So wurden beispielsweise Flächen in einem Kreuzungsbereich in Halle (Saale) bevorzugt, weil die Graffitis dort von vielen Menschen gesehen werden, während Wände an den parallel zur Straße verlaufenden Häusern weniger besprüht wurden, weil sie schlechter einzusehen sind (HARDING ET AL. 2009: 33f.). Folgende Abbildung zeigt am Beispiel einer Straßenkreuzung in Halle (Saale), wie die Einsehbarkeit eines Straßenabschnitts die Graffitidichte beeinflusst:

      Abb.