Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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ist. Das Anbringen von Street-Art im öffentlichen Raum ist zumeist legal oder richtet wenig Schaden an, weshalb es von der Polizei nur selten sanktioniert wird.2 Für den Wechsel der Szenen wird darüber hinaus das Argument genannt, mit Street-Art eine größere Gruppe von Menschen erreichen zu können. Graffitis sind für Szeneunkundige oft nur schwer zu entziffern und werden von Passanten daher in der Regel weniger beachtet. Bunte Schablonenarbeiten, Poster und Wandbilder werden in der Öffentlichkeit dagegen positiver aufgefasst, „da sie Wiedererkennungswert haben, verstanden werden und oftmals der Unterhaltung dienen“ (REINECKE 2012: 114).

      Gemeinsam haben beide Szenen, dass alle Angehörigen unautorisiert Arbeiten im öffentlichen, urbanen Raum hinterlassen. Graffiti und Street-Art-Werke integrieren sich gleichermaßen in das Stadtbild und unterbrechen damit die städtische Ordnung (WACŁAWEK 2012: 122). Des Weiteren sind auch Street-Art-Werke ephemer und somit „Bilder für den Augenblick“ (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 60). Zum Teil nutzen die Akteure auch das gleiche Material. Das Hauptwerkzeug der Writer ist zwar die Sprühdose, es werden aber auch dicke Marker verwendet – genau wie Street-Art-Künstler ihre Werke mitunter auch mit der Sprühdose anfertigen.

      Wie oben bereits angeklungen ist, verfolgen die Akteure mit ihrem künstlerischen Schaffen jedoch unterschiedliche Ziele: Der Fokus der Writer liegt auf „der Reproduktion des eigenen Namens bzw. Pseudonyms gegenüber seiner Szene“ (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 60). Graffitiwriter wollen mit ihren Werken somit in erster Linie die Mitglieder ihrer Szene erreichen. Szenefremde werden durch die Schriftbilder, deren Bedeutung oft rätselhaft bleibt, eher auf Distanz gehalten. Diese Wahrnehmung als „kryptische Ausdrucksform“ führt WACŁAWEK zufolge auch dazu, dass Graffiti in der Öffentlichkeit oft mit Vandalismus assoziiert werde (2012: 123).3 Demgegenüber sprechen die Werke der Street-Art eine größere Anzahl von Menschen an. Die figürlichen Formen bieten mehr Spielraum für Interpretationsmöglichkeiten und ermöglichen den Zugang zur Kunst für eine breitere Masse (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 60). Street-Art ist damit leichter für Außenstehende verständlich und wird daher auch eher als Kunst anerkannt.

      Auch die Graffitiszene selbst grenzt sich in der Regel klar von der Street-Art-Szene ab. In einem Interview mit der Leipziger Graffiticrew RADICALS (Backspin 87/2007) werden die Crewmitglieder gefragt, ob sie an der Entwicklung der Street-Art teilnehmen würden, woraufhin die Writer BLAIR und BIEST Folgendes antworten: „Ich bleibe lieber bei den alten Methoden, schon der Geruch von Sprühlacken macht mich an, das werde ich nicht gegen Leim oder Aufkleber eintauschen.“ BIEST verweist außerdem auf die unterschiedlichen Produktionsvorgänge: „Ich brauche die Aktion. Etwas Gebasteltes irgendwo hinhängen ist doch eher wie Christbaum-Schmücken.“ (Backspin 87/2007: 60)

      2.2.5 Zusammenfassung

      In einigen Publikationen wird argumentiert, dass sich das Szenegraffiti in eine jahrtausendealte Traditionslinie stellen lässt. Hier wurde hingegen dargelegt, dass sich die steinzeitliche Höhlenmalerei, die Zeichen der mittelalterlichen Reisenden und die politischen Parolen im 19. und 20. Jahrhundert sowohl formal als auch funktional vom modernen Szenegraffiti unterscheiden. Das moderne Szenegraffiti entwickelte sich in den 60er- und 70er-Jahren in den USA, anfänglich beeinflusst durch die zum Teil prekären Lebensbedingungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aus den Aktionen einzelner Schreiber entwickelte sich zunehmend eine Bewegung, die sich auch auf weitere amerikanische Städte ausweitete. Indem andere Individuen das Schreiben des eigenen Namens an die Wand als sinnstiftend anerkannten und es auch selbst praktizierten, bildete sich zunehmend eine Szene heraus.

      In dieser Arbeit wird ein enger Graffitibegriff zugrunde gelegt, weil die Graffitinamen, die im Fokus dieser Arbeit stehen, erst im modernen Graffiti zum zentralen Gegenstand werden. Es konnte zwar herausgestellt werden, dass Menschen bereits in der Antike und im Mittelalter ihren Namen unautorisiert auf Oberflächen im „öffentlichen Raum“ angebracht haben, allerdings erfolgte dies nicht in Anbindung an eine soziale Gruppe. Zu einer sinnhaften Handlung, die innerhalb eines sozialen Netzwerkes fortlaufend ausgeführt wird, entwickelte sich das Anbringen des Pseudonyms erst mit Entstehung der Graffitiszene. Um nachvollziehen zu können, warum das Herstellen onymischer Graffitis eine sinnhafte Tätigkeit darstellt, werden im folgenden Abschnitt Informationen zur Graffitiszene dargestellt.

      2.3 Die Szene

      The emergence of individual names and name categories is always based on the cultural and social context. In other words, names are not only part of language; they are part of society and culture, as well. Names are always born in the interaction between people, the linguistic community, and the environment. (AINIALA 2016: 371)

      Dieser Aussage aus dem „Oxford Handbook of Names and Naming“ zufolge sind Namen stets eng mit dem sozialen und kulturellen Kontext verbunden, in dem sie entstehen. Bezieht sich diese Aussage von AINIALA auf Namen im Allgemeinen, so ist anzunehmen, dass sie für die Namen im Szenegraffiti sogar eine besondere Gültigkeit besitzt. Denn die Namen sind nicht nur an eine soziale Gruppe – die Szene – gebunden, sondern sie sind für diese Gruppe außerdem von besonderer Relevanz. Es gibt möglicherweise keine andere Jugendszene, in der Namen eine so zentrale Bedeutung einnehmen. Daher ist es wichtig, die soziale Gruppe, die die Namen wählt und im öffentlichen Raum immer wieder sichtbar macht, genauer in den Blick zu nehmen. Die Namen lassen sich nur dann adäquat beschreiben und verstehen, wenn ihre Fundierung in der Graffitiszene berücksichtigt wird.

      Dies soll der folgende Abschnitt leisten, in dem die Werte, Sinnschemata und Strukturen der Szene dargestellt werden. Es gilt dabei etwa zu erläutern, wie die Szene organisiert ist, wie der Einstieg in die Szene erfolgen kann und aus welchen Gründen Graffitis hergestellt werden.

      2.3.1 Graffiti als Szene

      Die Graffiti-Writer bilden eine Art Gesinnungsgemeinschaft, auf die in der Forschung mit Ausdrücken wie „Szene“ (DITTMAR 2009: 101), „Subkultur“ (WACŁAWEK 2012: 55, MACDONALD 2001, REINECKE 2012: 27), „Jugendkultur“ (STEINAT 2007: 21) oder ganz allgemein mit „Bewegung“ („Movement“ SNYDER 2009: 31f.) referiert wird. In dieser Arbeit wird die Bezeichnung Szene verwendet, weil die Graffitiakteure selbst oftmals von einer Szene sprechen, wenn sie auf ihre Gemeinschaft referieren, und weil diese Bezeichnung auch in Magazinen wie „Backspin“ gebraucht wird.1 Gegenüber den eingangs erwähnten, alternativen Bezeichnungen ist Szene außerdem vorzuziehen, weil es – anders als Subkultur – keine Milieuzuweisung und – anders als Jugendkultur – keine Bindung an das Jugendalter impliziert (LAUENBURG 2008: 13).

      Eine Szene wird in der soziologischen Forschung verstanden als „[e]ine Form von lockerem Netzwerk; einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften“ (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 15). Die Gemeinschaft zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass alle Beteiligten eine gleiche oder ähnliche Gesinnung teilen (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 16). Durch die Vernetzung erhoffen sich die Mitglieder, Verbündete zu finden, mit denen sie szenetypische Praktiken ausführen und Gespräche führen können. Ganz zentral für jede Szene ist dementsprechend ein „Issue“ oder „Thema“, das ebendiese gemeinsame Gesinnung ausmacht (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 16). Der Zusammenhalt bezieht sich nicht nur auf die mentale Ebene – die gemeinsame Gesinnung –, sondern wird oft auch nach außen hin sichtbar gemacht, indem die Szenemitglieder eine „kollektive (Selbst-)Stilisierung“ praktizieren (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 17).2

      Graffiti kann als Szene interpretiert werden, weil mit dem Sprühen von Graffitis ein für alle Akteure zentrales Thema besteht. Dies zeigt bereits ein Blick in die Szenemagazine „Backspin“ und „Juice“, in denen die Interviewten stets in ihrer Rolle als Graffitisprüher auftreten. Ein weiterer Grund, Graffiti als Szene zu bezeichnen, besteht darin, dass sich die Akteure selbst als eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten verstehen. Zu dieser Gemeinschaft kann man Zugang erhalten, wenn man sich das szenespezifische Wissen zulegt und bestimmte Fähigkeiten aneignet. Diese Haltung zeigt etwa die Antwort von TRUS von der BAD CREW (Berlin) auf die Frage, wie er und die anderen Mitglieder der Crew gegenüber dem „Nachwuchs“ eingestellt sind:

      Nachwuchs ist prinzipiell ne gute Sache.