Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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wo die Toys durch unsere Yards und Layups schlendern und die Leute von der BP auf sich und womöglich auch auf uns aufmerksam machen. […] Wir waren auch nicht die ersten und mussten lernen wie das Game gespielt wird. Aber wir taten es! Sonst wären wir heut nicht da, wo wir sind. (Interview mit der BAD CREW auf ilovegraffiti.de 2010)

      Von Neueinsteigern wird demnach erwartet, dass sie sich an den bestehenden Mitgliedern orientieren. Insbesondere das Lexem „Game“ verdeutlicht diese Einstellung: Es gibt Spielregeln, die für eine Teilnahme am „Spiel“ eingehalten werden müssen.

      Gleichsam trifft der Aspekt der Selbststilisierung auf Graffitiwriter zu, weil sich die Akteure den Stilen der Szene anpassen. Dies erfolgt im Graffiti weniger über die äußere Erscheinung der Akteure, sondern vielmehr über die Graffitis selbst (SCHNEIDER 2010: 74). Indem sie beispielsweise einen selbstgewählten Namen im öffentlichen Raum hinterlassen, bestimmte Styles aufgreifen oder das typische Vokabular verwenden, weisen sie sich als Mitglieder der Graffitiszene aus.

      Von „der Szene“ im Graffiti zu sprechen, ist allerdings zugleich nicht ganz unproblematisch. Der Singular impliziert, dass es ein großes, globales Netzwerk der Writer gibt. Dies ist einerseits zutreffend, denn dass die Akteure auch über Ländergrenzen hinaus stark vernetzt sind, belegen diverse Szeneinterviews, in denen Writer von weltweiten Kontakten berichten. Auch sind die Akteure weltweit durch die Tätigkeit des Graffitiherstellens verbunden. Die Annahme einer großen Szene ist andererseits aber auch stark generalisierend. Nivelliert wird dabei nicht nur die Vielfalt individueller Motive, Formen etc., sondern auch Unterschiede, die das Land oder die Region betreffen bleiben unberücksichtigt. Writer aus Deutschland agieren vor einem anderen soziokulturellen Hintergrund als Akteure aus Mexiko oder den USA und haben daher möglicherweise andere Motive, Ziele etc. Da sich viele wichtige Studien aber gerade auf den amerikanischen Raum beziehen (z.B. MACDONALD 2001) und zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Graffiti auch deutliche Parallelen bestehen, erscheint es legitim, diese Ergebnisse an den geeigneten Stellen einfließen zu lassen. Ähnlich vorsichtig ist auch mit den Erkenntnissen älterer wissenschaftlicher Publikationen umzugehen, die sich oft auf die Anfangszeit der Szene beziehen. Es muss nicht nur in den Blick genommen werden, dass die Szene regionale bzw. nationale Unterschiede aufweist, sondern dass sie sich auch mit der Zeit weiterentwickelt hat. „Szenen sind dynamisch“ (HITZLER UND NIEDERBACHER 2010c: 25), weshalb die Erkenntnisse der 80er- und 90er-Jahre nicht unreflektiert auf die Szene der 2000er- und 2010er-Jahre übertragen werden können.

      2.3.2 Crews als „Communities of Practice“

      Die Vergemeinschaftung, die HITZLER UND NIEDERBACHER als elementares Merkmal von Szenen beschreiben (2010c: 15), wird im Graffiti am deutlichsten, wenn sich Writer zu Kollektiven zusammenschließen und gemeinsame Aktionen durchführen. Bei diesen Interessengemeinschaften handelt es sich um locker organisierte Gruppierungen, die beliebig gegründet und aufgelöst werden können. Sie werden in der Literatur zum Thema Graffiti als „Crews“ (SNYDER 2009, RAHN 2002, REINECKE 2012), seltener auch als „Writing Groups“ (KARL 1986: 47) bezeichnet. Die Crews haben – wie die Sprüher – einen eigenen Namen.

      In der amerikanischen Graffitiforschung findet sich ein interessanter Ansatz, bei dem Graffiticrews als „communities of practice“ eingeordnet werden (VALLE UND WEISS 2010: 130, MACGILLIVRAY UND SAUCEDA CURWEN 2007: 355).1 Das Konzept der „Communities of Practice“ ist ursprünglich von LAVE UND WENGER ([1991], 2003) im Rahmen der Lerntheorie entwickelt worden. Als „Communities of Practice“ werden dabei mehr oder weniger feste soziale Gemeinschaften verstanden, in denen sich die Individuen durch die aktive Teilhabe an den Praktiken der Gemeinschaft weiterentwickeln. Die Lerner2 steigen der Theorie nach in eine soziokulturelle Praktik als Neulinge ein und lernen durch Partizipation, um so selbst nach und nach zu vollwertigen Mitgliedern der Gemeinschaft zu werden (LAVE UND WENGER [1991], 2003: 53). Lernen erfolgt in dieser Perspektive weniger mit dem Ziel, neue Aufgaben erfüllen oder Probleme bewältigen zu können, sondern es erfolgt, um die eigene Position innerhalb der sozialen Gruppe zu verändern (LAVE UND WENGER [1991] 2003: 53). Lernen ist demzufolge als sozialer Prozess zu verstehen.3

      Das Konzept der „Community of Practice“ lässt sich auf die Graffitiszene insgesamt übertragen, denn diese Gemeinschaft zeichnet sich gerade durch die Praktik aus, Graffitis herzustellen.4 Es lässt sich jedoch – so argumentieren VALLE & WEISS (2010: 129) – auch auf Graffiticrews als kleinere Gruppierungen innerhalb der Szene anwenden. Zu dieser Erkenntnis kamen VALLE UND WEISS durch ihre ethnographische Feldforschung zu Graffiticrews in Mexiko-Stadt:

      On crews, learning occurs by participating in a peripheral manner: novices serve as lookouts while the others paint; masters draw the lines, and the others paint the background. Graffiti artists learn by practicing and by reproducing what they saw the masters or more advanced artists do. (VALLE UND WEISS 2010: 134)

      In der amerikanischen Graffitiforschung ist auch zu lesen, dass Neulinge mitunter durch einen Mentor in die Szene eingeführt werden, der ihnen die Regeln erklärt und Techniken zeigt (LACHMANN 1988: 234, RAHN 2002: 150).5 Der Mentor ist Lehrer und Vorbild zugleich, dessen Style der Lehrling adaptiert, bevor er eine eigene Stilrichtung entwickelt. Dieses „Lehrlingssystem“ in der amerikanischen Graffitiszene trug auch dazu bei, dass Techniken, Styles und auch ideelle Werte an spätere Sprühergenerationen weitergegeben wurden (DOMENTAT 1994c: 11, CHRISTEN 2003: 63ff.).6 Zu den ideellen Werten, die Szeneeinsteigern vermittelt werden, gehört beispielsweise, dass einige Flächen nicht besprüht werden: Kirchen und andere religiöse Gebäude, Friedhöfe, Statuen, private Autos und Häuser werden nach den „moral codes of the subculture“ ausgespart (FERRELL UND WEIDE 2010: 55).7

      Aussagen der Sprüher in Szenemagazinen und weiteren Publikationen zeigen an, dass in der deutschen Graffitiszene z.T. ähnliche Strukturen bestehen. Neulinge werden hier ebenfalls als Toys bezeichnet und üben typischerweise zunächst auf Papier, bevor sie sich an Wänden versuchen.8 Der Berliner Writer DES78 übte etwa ein Jahr lang, bis er seine „ersten Pieces an der Line“ malte (TRUE 2 THE GAME 2003, o.S.). Interviews im „Backspin“-Magazin ist außerdem zu entnehmen, dass sich auch die von VALLE UND WEISS beschriebenen Lern-Lehr-Situationen zwischen geübten Sprayern und Neulingen in der deutschen Szene finden. Der Writer ROCK berichtet beispielsweise davon, wie ihm der Szeneeinstieg durch seinen Lehrer SCORE erleichtert wurde: „Der hat mich mit an die Line genommen und mir gezeigt, wie man malt und wo man Dosen herbekommt.“ (Backspin 91/2007: 70) Von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis ist auch bei REINECKE zu lesen: „Es ist typisch, dass ein Anfänger damit beginnt, die Farbfüllungen für seinen Lehrer zu malen.“ (2012: 34) Was LAVE UND WENGER ([1991] 2003) für „Communities of Practice“ im Allgemeinen beschreiben, lässt sich demzufolge vorsichtig auf die deutsche Graffitiszene übertragen: Die Writer nehmen oftmals zunächst eine periphere Position innerhalb der Gemeinschaften ein und professionalisieren sich zunehmend durch Beobachtung und Teilhabe, wodurch nach und nach die Identität als Graffitiwriter geprägt wird. Die ersten Tags bringen Neulinge zumeist im direkten Umfeld ihres Wohnortes an. Mit zunehmender Sicherheit im Umgang mit der Sprühdose vergrößert sich das Aktionsviertel und reicht vom Stadtviertel bis hin zur ganzen Stadt (SCHMITT UND IRION 2001: 41).

      Auf Graffiticrews lässt sich ebenfalls übertragen, was LAVE & WENGER für „Communities of Practice“ im Allgemeinen formulieren. Sie gehen davon aus, dass es sich um ein „set of relations among persons, activity, and world, over time and in relation with other tangential and overlapping communities of practice“ handelt (1991: 98). „Communities of Practice“ sind demnach nicht gleichbleibend und beständig, sondern von der jeweiligen Zeit, den Mitgliedern, den Aktivitäten etc. geprägt. Auch Graffiticrews bestehen in wechselnden Konstellationen. Mitglieder verlassen die Gemeinschaften, wenn ästhetische Vorstellungen nicht mehr übereinstimmen, persönliche Differenzen vorliegen oder aus Furcht vor (erneuten) strafrechtlichen Folgen (SCHMITT UND IRION 2001: 20, SCHRÖER 2013: 180ff.). Es werden dann entweder neue Mitglieder aufgenommen oder Crews zugunsten neuer Formationen völlig aufgelöst. Nach SCHMITT UND IRION bestehen die Gruppierungen selten länger als einige Jahre (2001: 20).9 Die Crewzugehörigkeit ist dementsprechend locker geregelt und freiwillig (SCHNEIDER 2012a: 24).10

      Es ist durchaus üblich, dass Graffitiakteure verschiedenen Crews angehören und somit