Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen


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der Werke: Die Graffitis sollen gesehen werden – und zwar sowohl von Szenemitgliedern als auch von Passanten, die, ob gewollt oder ungewollt, ebenfalls zu Rezipienten gemacht werden. Dies zielt darauf ab, die Writer bekannt zu machen, denn – wie LEWISOHN treffend formuliert – „Fame is the name of the game in graffiti writing“ (2008: 43).

      Schrift im öffentlichen Raum ist Gegenstand der Linguistic-Landscape-Forschung (vgl. dazu GORTER 2006, BACKHAUS 2007, SHOHAMY UND GORTER 2009, SHOHAMY ET AL. 2010, AUER 2009, 2010). Nach einer viel zitierten Definition von LANDRY UND BOURHIS konstituieren sich Linguistic Landscapes insbesondere durch „[t]he language of public road signs, advertising bill-boards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings“ (1997: 25).3 In dieser frühen Definition werden Graffitis noch nicht als Bestandteil der Linguistic Landscape gewertet. In späteren Publikationen, z.B. bei PENNYCOOK (2009, 2010), finden Graffitis jedoch Berücksichtigung. Allerdings bilden sie innerhalb der Linguistic-Landscape-Forschung nach wie vor einen eher marginalen Untersuchungsgegenstand.

      Es wurde bereits darauf hingewiesen – und auch die Definition von LANDRY UND BOURHIS (1997) macht dies deutlich –, dass Graffitis im öffentlichen Raum nicht isoliert stehen, sondern von einer Vielzahl weiterer ortsfester Schrift umgeben sind. Wie das Foto in Abb. 6 zeigt, das im Mannheimer Stadtbezirk Neckarstadt-West aufgenommen wurde, erscheinen Graffitis etwa in direkter Umgebung zu Ladenschildern („Stadtteilbüro“), Postern (Einladung zur „Stadtteilgruppe“), Fensterwerbung („Waschen 7–10 Uhr“, „1,90 €“) und Hausnummern („28A“).

      Abb. 6: Verschiedene Formen ortsfester Schriftlichkeit im öffentlichen Raum (31057)

      Die Linguistic-Landscape-Forschung unterscheidet diese Formen in Top-down- und Bottom-up-Zeichen, je nachdem, ob sie offiziell von Behörden (Top-down) oder inoffiziell von Unternehmen oder Privatpersonen zu Werbezwecken (Bottom-up) angebracht wurden (GORTER 2006: 3). Daran zeigt sich, dass die Anbringung von Zeichen im öffentlichen Raum auch von der „Agentivität und Macht“ der Zeichenproduzenten zeugt (AUER 2010: 295). Sie symbolisieren „die Macht der Agenten, die sie angebracht oder aufgestellt haben“ (AUER 2010: 295). Da die Autorenschaft der Zeichen für die Rezipienten jedoch gar nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, ist es „die Struktur des Zeichens selbst, die seine Autorität zu einem wesentlichen Maß garantieren muss“ (AUER 2010: 296). Straßenschilder und Verkehrsschilder, für deren Herstellung ein verhältnismäßig großer technischer Aufwand betrieben wird und die somit auch auf dauerhafte Gültigkeit ausgelegt sind, vermitteln dementsprechend mehr Autorität als Zettel (AUER 2010: 296). Noch weniger Autorität geht von Graffitis und anderen handschriftlich hergestellten Zeichen im öffentlichen Raum aus (AUER 2010: 296).

      2.1.6 Urban

      Ortsfeste, öffentliche Schriftlichkeit findet sich in städtischen Gebieten – vor allem in den Innenstädten – in geballter Form (GORTER 2006: 2). GORTER stellt daher fest, dass man statt von einer Linguistic Landscape auch von einer „linguistic cityscape“ sprechen könne (2006: 2). Auch Graffitis lassen sich in städtisch geprägten Gebieten in weitaus größerer Zahl entdecken als in Kleinstädten und Dörfern.1 TOPHINKE bezeichnet das Herstellen von Graffitis daher auch als „urbane Praktik, die die Stadt nicht nur als Aktionsraum nutzt, sondern die zur Konstruktion des städtischen Raumes selbst wesentlich beiträgt“ (2016: 411). Die Praktik des Graffitiherstellens ist somit nicht nur mehrheitlich im urbanen Raum zu finden, sondern die Artefakte der Praktik tragen selbst wesentlich zur Konstruktion von Urbanität bei.

      Im urbanen Raum werden Graffitis prinzipiell auf allen zur Verfügung stehenden Oberflächen angebracht: Sie finden sich auf Zügen, Hauswänden, Mauern, Bänken und sogar an Baumstämmen.2 Bei genauerer Betrachtung geben sich allerdings einige Bereiche der Stadt zu erkennen, die bevorzugt besprüht werden (TOPHINKE 2016: 411). Es handelt sich dabei in der Regel um Räume, die von vielen Menschen frequentiert werden, dabei jedoch nicht zum Verweilen auffordern. Sie werden auch „Transiträume“ genannt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie „in der Regel zu raschem Durchschreiten [veranlassen] und […] den Aufenthalt auf funktionale Notwendigkeiten“ begrenzen (BRECKNER 2008: 210).3 NEEF (2008: 302) argumentiert ähnlich und greift dabei das Konzept der „Nicht-Orte“ von AUGÉ ([1992], 1994)4 auf. Sie stellt fest, dass Graffitis häufig an Orten wie Bahnhöfen, Tunneln und Unterführungen zu finden sind und daher oft „erst vom Fenster eines Autos, eines Busses oder eines Zuges sichtbar“ werden (NEEF 2008: 302). Für die Rezeption der Graffitis bedeutet das, dass sie von Passanten oft aus der Bewegung heraus – also eher flüchtig und beiläufig – wahrgenommen werden.

      Öffentliche Räume und insbesondere die eben genannten Transiträume sind darauf ausgerichtet, dass sich Individuen in ihnen bewegen: Menschen, Tiere und auch Objekte (z.B. Autos oder Busse) durchqueren sie in verschiedenen Geschwindigkeiten. Das Bewegen ist dabei durch die Bebauung reguliert; Nutzungsmöglichkeiten und -wege sind also vorgegeben (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). Hofdurchgänge sind beispielsweise zum Passieren gedacht, Straßen zum Entlanggehen, Imbissbuden zum Essen und Einkaufspassagen zum Konsumieren (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). „Diese tendenzielle Normierung des Stadtraums […] führt auch zu einer Normierung des Verhaltens, verengt die Handlungsmöglichkeiten“ und stellt eine soziale Ordnung her, in der genaue Vorstellungen über angemessenes Verhalten im öffentlichen Raum bestehen (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). An dieser Stelle zeigt sich erneut das subversive Moment des Szenegraffitis, denn Graffitiwriter – so könnte man sagen – unterwandern die soziale Ordnung des Raums, indem sie ihn umdeuten und stattdessen für ihre jeweiligen kommunikativen, performativen und expressiven Absichten nutzen (EDWARDS-VANDENHOEK 2017: 55).

      2.1.7 Artefakte

      Wenn man das Herstellen von Graffitis als Praktik versteht, so sind Graffitis als Artefakte dieser Praktik zu perspektivieren (TOPHINKE 2016: 421ff.).1 Sie verbleiben als Ergebnis der Sprühaktivitäten im öffentlichen Raum, während die Handlung längst abgeschlossen ist. Eine praxistheoretische Perspektive auf sprachliche Phänomene wird in der Linguistik seit einigen Jahren neu diskutiert und Untersuchungen zugrundegelegt, weil sie nicht nur „eine feingranulare und auf Variation angelegte Beschreibung sprachlicher Formen in actu“ ermöglicht, sondern auch deren Einbindung in soziale Handlungsmuster betont (EICHINGER 2016: XI). Beim Thema Graffiti rückt die praxistheoretische Perspektive stärker die den Graffitis zugrunde liegenden Handlungen in den Fokus. Dies erscheint sinnvoll, denn – wie PENNYCOOK herausstellt – „Graffiti are very much about production“ (2009: 306).

      Die Herstellung von Graffitis kann als Praktik beschrieben werden, weil es sich um körperliche Bewegungen handelt, die klar auf Wiederholung angelegt sind. Insbesondere das Anbringen der Tags kann als routinisierte Handlung bezeichnet werden. DEPPERMANN ET AL. stellen heraus, dass Praktiken „soziale Strukturen, d.h. nicht kreative, individuelle Lösungen, sondern sozial konsentierte Routinen […]“ sind (2016: 8). Obwohl die Graffitinamen selbst äußerst kreativ und individuell sind, liegen dem Prozess ihrer Herstellung typische Bewegungsabläufe zugrunde.

      In einer praxistheoretischen Perspektive lassen sich für die Graffitis beispielsweise Strukturen erkennen, die auf die Dynamik der Herstellung hinweisen (TOPHINKE 2016: 425). Denn im Unterschied zum „normalen“ Signieren, wie es etwa an der Supermarktkasse erfolgt, macht beim Herstellen eines Tags typischerweise der ganze Körper die Bewegungen mit (TOPHINKE 2016: 415). Aspekte dieser Körperlichkeit werden etwa in den Buchstabenausläufen besonders sichtbar, die oft eine Linksbewegung enthalten, damit die schwungvoll ausgeführten Bewegungen auslaufen können (TOPHINKE 2016: 415). Dicker und dünner werdende Linien sowie transparentere oder intensivere Farbgebung zeigen ebenfalls die Körperlichkeit der Graffitiherstellung an. Der Writer muss den Arm bzw. den Körper beim Sprühen dementsprechend zur Wand hingeführt oder von der Wand entfernt haben. Auch bei der Produktion der flächig gestalteten Namenszüge wird der ganze Körper eingebunden: „Es bedarf jeweils großer, dynamischer, gleichwohl kontrollierter Körperbewegungen“ (TOPHINKE 2016: 416). Der Herstellungsprozess der Throw Ups und Pieces erfordert demzufolge andere Bewegungsabläufe und erinnert vielmehr an das Malen großflächiger Bilder. Die