Jan Standke

Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL


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das Erlebte. Die Mutter flüchtet sich in Schweigen und Melancholie, der Vater stürzt sich in die Arbeit. Die Traumata, die Scham und Schuld der Eltern übertragen sich auch auf den Sohn.

      Das Schicksal der Eltern ähnelt den Erlebnissen vieler, die nach ihrer Flucht und Vertreibung während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland ankamen. Der Verlorene ist ein Stück literarische Literarische Mentalitätsgeschichte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit, die der Ich-Erzähler anhand seiner Betrachtungen der familiären Verhältnisse entwirft. Er berichtet vom gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit und individueller Schuld, von den Herausforderungen der 1950/60er Jahre, aber auch vom unterschwelligen Fortleben nationalsozialistischer Ideologie. Auch lange tabuisierte Themen wie sexuelle Gewalt als Nebenerscheinung des Krieges werden angesprochen. Vor allem aber wird vom Aufwachsen und der Identitätssuche in einer Familie berichtet, die dem Abwesenden mehr Bedeutung zumisst als dem Anwesenden.

      Mit dem Ich-Erzähler hat der Autor Autobiografische Grundlage Treichel manches gemeinsam. Auch der älteste Bruder des Autors ging auf der Flucht der Eltern aus Polen verloren. Doch Der Verlorene ist keineswegs nur ein faktischer Lebensbericht des Autors. Die Erzählung ist komplex komponiert, reich an Symbolik und mythologischen Bezügen sowie ironisch im Ton. Biografie und Fiktion fließen bei Treichel kunstvoll zusammen.

      In anderen literarischen Texten hat Treichel die Ereignisse, von denen Der Verlorene handelt, weitererzählt und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Der Verlorene ist somit Intertextualität intertextuell mit weiteren Erzählungen und Romanen Treichels verbunden und eignet sich als Einstieg in das Werk eines wichtigen Erzählers der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

      Die Medien filmische Adaption der Erzählung sowie eine Dramatisierung für die Theaterbühne bieten medienspezifische Bearbeitungen des literarischen Stoffs.

      Durch die enorme Bedeutung der Themen Flucht und Migration für unsere Gegenwart hat Treichels historisch orientierte Erzählung an Aktualität Aktualität gewonnen.

      2. Inhaltsangabe

      In Der Verlorene berichtet ein namenloser Ich-Erzähler von seiner Kindheit und Jugend in einer ostwestfälischen Stadt. Die erzählte Handlung beginnt in den 1950er Jahren und reicht bis ins Jahr 1964. Einzelne Rückblenden vermitteln zudem Erlebnisse der Eltern auf der Flucht aus Ostpreußen und führen ins Jahr 1945 zurück.

      Das Familienalbum

      Der Verlorene beginnt mit der Betrachtung einer Fotografie: »Mein Bruder hockte auf einer weißen Wolldecke und lachte in die Kamera.« (S. 7) Der namenlose Ich-Erzähler beschreibt ein Foto, das seinen ca. einjährigen Bruder Bruder Arnold Arnold zeigt und »ganz vorn« (S. 7) im Familienalbum platziert ist.

      Die Mutter, der beim Betrachten des Fotos stets die Tränen kommen, erklärt, dass dieses Bild im letzten Kriegsjahr »zuhaus« entstanden sei, kurz bevor die Familie aus dem »Osten« (S. 7) habe fliehen müssen. Der Ich-Erzähler beneidet den älteren Bruder um dessen Platz im Familienalbum und um die Aufmerksamkeit der Mutter, der das Foto stets »Anlaß zu unerschöpflicher Betrachtung bot« (S. 10). Vom Ich-Erzähler finden sich lediglich »winzige[ ]« (S. 10) Fotos im Album, auf denen nur einzelne Körperteile zu erkennen sind. Von der Mutter werden sie rasch überblättert. Zunächst zeigt sich der Ich-Erzähler nur »beiläufig beunruhigt« (S. 10) darüber, dass er seinen älteren Bruder bislang nie kennengelernt hat.

      Als die Mutter ihm »[i]rgendwann« (S. 10) mitteilt, dass sein Bruder auf der »Flucht vor dem Flucht vor dem »Russen«Russen« (S. 11) verhungert sei, stellt der Ich-Erzähler Fragen nach den näheren Umständen, die unbeantwortet bleiben. Da der Ich-Erzähler nun weiß, dass Arnold tot ist, kann er leichter mit dessen Foto umgehen und der ältere Bruder wird ihm sogar »sympathisch« (S. 11). Denn mit einem »auf der Flucht […] verhungert[en]« (S. 12) Bruder kann er vor seinen Spielkameraden angeben.

      Die Wahrheit über den »toten« Bruder

      Der Ich-Erzähler lebt einige Jahre in der Überzeugung, sein Bruder sei tot, bis ihm die Mutter in Aussprache mit der Mutter einer »Aussprache« (S. 12) die Wahrheit über Arnold offenbart: Arnold sei gar nicht tot, stattdessen sei er auf der Flucht aus der ostpreußischen Heimat verlorengegangen. Es fällt der Mutter schwer, den Grund für das Verschwinden des älteren Sohnes auch nur »annähernd begreiflich zu machen« (S. 14), und der Ich-Erzähler versteht die »Geschichte vom verlorengegangenen Arnold« (S. 13) dementsprechend auch nur zum Teil.

      Eines Morgens hätten russische Soldaten den Treck der Eltern Auf der Flucht gestoppt gestoppt und sich »ihre Opfer« aus den Flüchtenden herausgesucht, darunter auch die Eltern des Ich-Erzählers. Aus panischer Angst vor einer Erschießung habe die Mutter Arnold einer neben ihr hergehenden Frau in die Arme gelegt (S. 15). Die Frau sei sofort in der Menschenmenge verschwunden, so dass sie ihr nicht einmal den Namen des Kindes habe zurufen können.

      Die Eltern wurden von den russischen Soldaten nicht erschossen, aber dennoch sei das Das »Schreckliche« geschieht »Schreckliche« – vermutlich eine Vergewaltigung der Mutter – »dann doch passiert« (S. 16). Auf die Neuigkeiten über den »untoten Bruder« (S. 17) reagiert der Ich-Erzähler wütend. Er erkennt nun, dass ihm durch Arnolds Schicksal nur eine »Nebenrolle« (S. 17) in der Familie zugewiesen wurde.

      Der Ich-Erzähler macht den Bruder dafür verantwortlich, dass er in einer »von Schuld und Scham Schuld und Scham vergifteten Atmosphäre« (S. 17) aufwächst, die alle Lebensbereiche durchdringt. Vor allem die sonntäglichen Ausflüge, die die Familie mit der »schwarzen Limousine« (S. 18) des Vaters in den Teutoburger Wald unternimmt, erlebt der Ich-Erzähler als »wahre Schuld- und Schamprozessionen« (S. 19).

      Um den Ausflügen zu entgehen, legt sich der Ich-Erzähler eine »spezielle Form von Reisekrankheit Reisekrankheit« (S. 21) zu. Während der Autofahrten, für die der Vater verschiedene neue Limousinen anschafft (S. 21), und später dann auch im Zug muss sich der Ich-Erzähler regelmäßig erbrechen. Die Eltern kapitulieren schließlich, und der Ich-Erzähler darf die Sonntage fortan zu Hause verbringen. Die sonntäglichen Stunden sieht er als seine »schönsten Kindheitserinnerungen«, obwohl er nach kurzer Zeit stets »Beklemmung und Verlassenheit« (S. 23) empfindet. Ablenkung findet er z. B. bei seinen Versuchen, mit geschlossenen Augen die am Wohnzimmer vorbeifahrenden Autos am Motorgeräusch zu erkennen, oder beim »exzessive[n] Radiohören« (S. 24).

      Bei der Sendersuche lauscht er begierig Radio und russische Worte russischen Worten und bildet sich ein, dass die Worte in der fremden Sprache etwas mit dem Schicksal seiner Familie zu tun haben (S. 25). Dass der Ich-Erzähler seine Zeit nun oft auch vor dem neuen Fernsehen Fernsehgerät verbringt, findet der Vater »unerträglich« (S. 26). Deshalb überhäuft der sonst sehr wortkarge Vater den Sohn mit Arbeitsanweisungen, sobald der Fernseher eingeschaltet ist (S. 27).

      Nur wenn Tante Tante Hilde Hilde, die ältere, verwitwete Schwester des Vaters, zu Gast ist, findet dieser Gefallen am Fernsehen. Es amüsiert ihn, dass die strenggläubige Hilde durch das Fernsehen in »Versuchung[ ]« (S. 29) geführt wird. Denn eigentlich liest sie ständig nur im »Kirchenblättchen«, diskutiert die »Wochenlosung« und hält das Fernsehen für eine »Erfindung des Teufels« (S. 28). Heimlich interessiert sie sich aber doch für das Fernsehprogramm. Sie sitzt zwar abgewandt, hört aber aufmerksam zu, während die Mutter und der Ich-Erzähler auf den Bildschirm blicken.

      Die Freude, die Mutter und Sohn am Fernsehen empfinden, wird von Schuld- und Intimität und Scham Schamempfindungen verdrängt, sobald es auf dem Bildschirm harmlose Intimitäten, z. B. Kussszenen, zu sehen gibt (S. 31). Die Beschämung hält auch dann noch an, wenn keinerlei intime Szenen mehr zu sehen sind. »Die bloße Zweisamkeit vor dem Fernseher« (S. 31) treibt dann dem Ich-Erzähler die Schamröte ins Gesicht. Die Mutter entgeht der Situation, indem sie den Fernseher ausschaltet, den Raum verlässt und sich im Haus »zu schaffen« (S. 32) macht.

      Der wirtschaftliche