Jan Standke

Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL


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Einzelkindes nicht aufgeben. Zugleich wird er mit dem Schweigen der Mutter konfrontiert, das typisch für die Kommunikation innerhalb der Familie ist:

      »Auf meine Frage, ob denn niemand außer ihr Milch für das Kind gehabt habe, sagte die Mutter nichts, und auch alle meine anderen Fragen nach den näheren Umständen der Flucht und dem Verhungern meines Bruders Arnold beantwortete sie nicht.« (S. 11)

       Keine Antworten Antworten werden dem Ich-Erzähler verwehrt. Ihm bleibt stets nur die Position des Reagierenden in einem schrittweisen Prozess der Wahrheitsfindung über das tatsächliche Schicksal seines Bruders. In diesem Prozess fragt der Ich-Erzähler auch immer wieder nach der eigenen Identität.

      Über die Umstände der Flucht der Eltern wie auch über das Schicksal des Bruders hört der Ich-Erzähler stets ähnliche Geschichten. Doch vieles erscheint ihm in diesem Zusammenhang fraglich oder vage. Deshalb denkt er intensiv etwa über das Verhalten der Eltern oder die Bedeutung der Familienfotos nach. Der Verbleib des Bruders und das Schweigen der Eltern werden für den Ich-Erzähler zu einem Rätsel, das er mit zunehmender Scharfsicht zu lösen versucht. Da die Eltern mit ihrem jüngsten Sohn nur wenig kommunizieren, fördern sie unfreiwillig seine Beobachtungsgabe Beobachtungsgabe und sein Reflexionsvermögen. So hört er anfangs z. B. aufmerksam den Gesprächen des Vaters mit seiner Kundschaft zu und macht sich ein Bild vom Berufsstand der Lebensmittelhändler. Während eines Mittagessens in Heidelberg untersucht er das Erscheinungsbild eines Leichenwagenfahrers auf Anzeichen des Todes und bemüht sich schließlich, die Ergebnisse der komplizierten wissenschaftlichen Gutachten nachzuvollziehen. Dementsprechend nehmen die gedanklichen Vorgänge des Ich-Erzählers im Text viel Raum ein.

      Der Prozess der Wahrheitsfindung gewinnt erstmals an irritierender Dynamik, als die Mutter den Ich-Erzähler um eine » Aussprache mit der Mutter Aussprache« (S. 12) bittet. An der Verwunderung des Erzählers über diese Bitte ist wiederum zu erkennen, wie reduziert die Kommunikation zwischen Eltern und Sohn bisher verlief:

      »Dem Vater reichten kurze Befehle und Arbeitsanweisungen, um sich mit mir zu verständigen, und die Mutter redete wohl gelegentlich mit mir, doch meist lief das Gespräch auf den Bruder Arnold und damit auf Tränen oder Schweigen hinaus.« (S. 12)

      Als der Ich-Erzähler erfährt, dass Arnold nicht tot, sondern auf der Flucht verlorengegangen ist, nimmt er den Bruder zunehmend als Bedrohung seiner ohnehin schon schwachen Stellung im familiären Gefüge wahr. Vor allem erkennt er in ihm aber die Ursache für das »Gefühl von Schuld und Scham in der Familie« (S. 17), das sein Aufwachsen fortwährend begleitet und dessen Ursprung er sich bisher nicht erklären konnte.

       Scham und Schuld Scham und Schuld sind Schlüsselbegriffe der Erzählung. Der Ich-Erzähler empfindet Schuld und Scham in ganz unterschiedlichen Situationen: Vor allem während der sonntäglichen Ausflüge in den immer neuen Limousinen des Vaters, die er als wahre »Schuld- und Schamprozessionen« (S. 19) beschreibt, wird er von starker Übelkeit geplagt und muss sich übergeben (S. 21 f.). Seine persönliche »Reisekrankheit« (S. 21) verschlimmert sich, je größer und teurer die Autos des Vaters werden. Und auch beim gemeinsamen Fernsehen mit der Mutter empfindet der Ich-Erzähler Scham, vor allem, wenn intime Szenen gezeigt werden. Scham verspürt aber nicht nur der Ich-Erzähler; auch die Mutter kann ihr permanentes Scham- und Schuldempfinden nicht verbergen, was zu einem distanzierten Verhältnis zum Sohn führt. Die gelegentlichen Gefühlsausbrüche der Mutter kann der Ich-Erzähler zunehmend schwerer ertragen.

      Schließlich führen diese problematischen Interaktionen mit der Verhältnis zur Mutter Mutter dazu, dass der Ich-Erzähler in eine Situation gerät, in der es ihm unmöglich erscheint, Emotionen und Empathie Ausdruck zu verleihen. Zwar empfindet er Mitleid mit der Mutter, die unter dem Verlust des älteren Sohnes stark leidet. Es gelingt ihm aber nicht, Trost zu spenden oder Nähe herzustellen. Nachdem der Ich-Erzähler erfährt, dass Arnold auf der Flucht verlorenging und der Mutter von den »Russen« etwas »Schreckliches« (S. 16) zugefügt wurde, wird seine weitere Entwicklung im Wesentlichen von Fragen um Arnolds Existenz, von der anwachsenden Traurigkeit der Mutter sowie vom wirtschaftlichen Aufstieg des Vaters bestimmt.

      Zum Verhältnis zum Vater Vater hat der Ich-Erzähler ein distanziertes Verhältnis. Selbst ein kleines Vergnügen wie das Fernsehen scheint der Vater dem Sohn nicht zu gönnen und erteilt ihm sogleich verschiedenste Aufgaben (S. 26 f.). Den Aufstiegsinteressen des Vaters fällt auch das »Kindheitslabyrinth« (S. 46) des Ich-Erzählers zum Opfer. Durch den großangelegten Umbau des Elternhauses bleibt von den »langen Korridoren [und] tiefen Wandschränken« (S. 46), die der Ich-Erzähler in seiner Kindheit mit Vergnügen durchstreifte, nichts erhalten. Die kindliche Freude des Ich-Erzählers am märchenhaften »Zauberwald« (S. 46), den der Dachboden für ihn darstellte, wird vom Vater durch die Umbaumaßnahmen gleichsam »entkernt« (S. 47).

      Weitere Unterschiede zwischen Vater und Ich-Erzähler vergrößern die emotionale Emotionale Distanz Distanz: Die Brutalität, die mit dem Schlachten des Schweins verbunden ist, scheint den Vater nicht zu stören, während sie den Sohn anwidert. Und auch was die Frisur des Sohnes betrifft, liegen die Vorlieben des Vaters und des Ich-Erzählers weit auseinander: Schwebt dem Vater ein Schnitt auf »Frontsoldaten- beziehungsweise Lagerinsassenhaarlänge« (S. 68) vor, gibt es für den Sohn »nichts Schöneres, als langes Hinterkopfhaar zu tragen« (S. 67).

      Während er dem Vater hilft, sich für die Vermessung der Füße im Heidelberger Labor zu entkleiden, erkennt der Ich-Erzähler, wie wenig vertraut er ihm eigentlich ist (S. 88 f.). Unübersehbar wird die Entfremdung, als der Ich-Erzähler bei der Beerdigung des Vaters keine Trauer empfinden kann und nur daran denkt, seine schwarze Armbinde abzustreifen.

      Die Sehnsucht der Eltern nach dem verlorenen Arnold wird für den Ich-Erzähler zu einer in mehrfacher Hinsicht Schmerzhafte Abwesenheit schmerzhaften Erfahrung. Die elterliche Bevorzugung des abwesenden Bruders ruft beim Ich-Erzähler psychisch schmerzliche Empfindungen wie Wut und Neid hervor. Als der Vater ihm berichtet, dass es sich beim Findelkind 2307 vermutlich um den verlorengegangenen Bruder handele, der ihm »wie aus dem Gesicht geschnitten« (S. 55) sei, übersetzt sich das sprachliche Bild auch in körperliches Leid: Den Ich-Erzähler durchzucken »Schmerzblitze« und sein Gesicht verzieht sich zu einem »krampfartige[n] Grinsen« (S. 56). Ein Arzt diagnostiziert später eine »Trigeminusneuralgie« (S. 57).

      Die beginnenden Untersuchungen Untersuchungen zur Feststellung der Verwandtschaft mit dem Findelkind 2307 erlebt der Ich-Erzähler mit wachsender Irritation. Einerseits sind ihm die an ihm durchgeführten Prozeduren physisch unangenehm; andererseits führen die dauerhaften Vergleiche mit dem Findelkind 2307 dazu, dass der Erzähler sich selbst »immer unähnlicher« (S. 57 f.) wird: »Jeder Blick in den Spiegel irritierte mich. Ich sah nicht mich, sondern Arnold, der mir zunehmend unsympathischer wurde.« (S. 58)

      Eine Zersplitterte Identität Zersplitterung seiner Identität verspürt der Ich-Erzähler schon beim Betrachten der »winzige[n] Photos« (S. 8) im Familienalbum, die jeweils immer nur Versatzstücke seines Körpers zeigen und sich nicht zu einem Ganzen zusammensetzen lassen. In den wissenschaftlichen Gutachten wird diese Fragmentierung der Identität des Erzählers fortgesetzt. Er wird dort auf einzelne Körperbaumerkmale reduziert und durch komplizierte Rechenoperationen zu den ebenfalls unpersönlichen Merkmalen der Eltern und des Findelkindes in Beziehung gesetzt. ›Familie‹ gerät so zu einer bloßen Relation von Prozentwerten. In der letzten wissenschaftlichen Stellungnahme, dem »biomathematischen Zusatzgutachten« (S. 154), verliert der Ich-Erzähler sogar die »Nebenrolle« (S. 17), die er bislang im Familienensemble spielte. »Jetzt, wo es darauf ankam, spielte ich ganz offensichtlich keine Rolle mehr.« (S. 154)

      Die Zweifel an der eigenen Identität reichen so weit, dass er vermutet, nicht das leibliche Kind seiner Eltern zu sein. Mehrmals deutet sich im Text an, dass er ein »Russenkind?«»Russenkind« (S. 151) sein könnte, das aus einer Vergewaltigung der Mutter hervorgegangen ist. Der Ich-Erzähler ahnt dies auch, wenn er sich über sein Interesse an russischen Worten im Radio wundert:

      »Obgleich ich kein Wort von dem verstand, was der Russe im Radio redete, lauschte ich begierig den fremden Lauten. Und je länger ich den Worten des Russen zuhörte, […] um so mehr […] bildete [ich] mir auch ein, daß die Worte des Russen irgend etwas mit mir und meiner Familie zu tun