Jan Standke

Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL


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Zunächst betrieb er eine Leihbücherei und dann ein Lebensmittelgeschäft; nun führt er einen Fleisch- und Wurstgroßhandel (S. 32). Für diesen Aufstieg hat sich der Vater fleißig weitergebildet; bei der Industrie- und Handelskammer legte er die Prüfung zum Großhandelskaufmann ab (S. 33).

      Zu seinen Aufgaben als Großhandel Großhändler gehört es auch, zu Kunden zu reisen und sich deren Sorgen anzuhören. Der Ich-Erzähler begleitet den Vater auf diesen Reisen gelegentlich und beobachtet dabei die Lebensmittelhändler. Viele der Händler erscheinen ihm als »gehetzte« und »traurige« Menschen, die meisten haben gesundheitliche Probleme (S. 35). Mit den Lebensmittelhändlern spricht der Vater über die Konkurrenz, die wählerische Kundschaft und das aktuelle Angebot (S. 35–37).

      Eine kulinarische Vorliebe des Vaters ist frischer Schweinekopf als Festessen Schweinekopf. In jedem Frühjahr und Herbst bringt er ein Exemplar nach Hause, aus dem die Mutter eine ganz Fülle an Speisen zubereitet, von denen sich die Familie wochenlang ernährt. Der Ich-Erzähler nimmt nur widerwillig am Schweinekopfessen teil, da ihn die grausame Schlachtung der Tiere schockiert (S. 40 f.). Ein besonderes Ereignis des Schlachttags, an dem auch Bekannte der Eltern aus dem Osten teilnehmen, ist der Verzehr des Schweinehirns. An diesen Tagen erinnert sich der Vater an seine Heimat und es geht – was dem Sohn gefällt – so »ausgelassen« zu wie »in [s]einem Elternhaus sonst nie« (S. 43). Allerdings wird er vom Vater zum Verzehr des Schweinehirns verpflichtet: »›Hirn macht klug‹, […] in den Augen des Vaters fehlte mir nichts so sehr wie eine anständige Portion Hirn« (S. 42).

      Die Gäste des Essens erzählen heitere Anekdoten über das Schlachten unterschiedlicher Tiere, die beim Ich-Erzähler zuweilen Alpträume hervorrufen. Irgendwann nehmen die fröhlichen Abende jedoch eine Wendung, die Heiterkeit schwindet und die Gespräche verstummen. Dem Ich-Erzähler scheint es, dass die Eltern in den folgenden Tagen durch Buße Schweigen und Geschäftigkeit für das »gute Essen« und die kurzen Momente der Heiterkeit »büße[n]« (S. 45).

      Den Vater treibt der Wunsch nach wirtschaftlicher Expansion zu umfangreichen Umbau des Hauses Umbauarbeiten am Haus der Familie. Die Renovierungen und Erweiterungen führen so weit, dass »nichts mehr dem alten glich«. Für den Ich-Erzähler bedeuten die Umbauten den Verlust seines » Kindheitslabyrinth Kindheitslabyrinth[s]« (S. 46). Zuvor nämlich diente ihm das Haus als mythischer Spielplatz, den er gern durchwanderte. Besondere Bedeutung kam dabei dem Dachboden zu, den der Ich-Erzähler als seinen »Zauberwald« und »Angstort« (S. 46) bezeichnet. Durch die Falltür des Dachbodens konnte er einen Raum sehen, den er »noch nie betreten hatte« (S. 47). Der Ich-Erzähler traut sich nicht, seine Eltern nach diesem Raum zu fragen. Er ist sich sicher, dass er auch nach dem Hausumbau noch existiert.

      Das Findelkind 2307

      Als die Arbeiten am Haus beendet sind, erleidet die Mutter einen Zusammenbruch Zusammenbruch (S. 48). Der Arzt diagnostiziert eine Überanstrengung und die Mutter tritt eine mehrwöchige Kur an. Vom Vater wird sie dort an den Wochenenden besucht. Als er von einem der Besuche zurückkehrt, erklärt er dem Sohn, dass der wahre Grund für den Zusammenbruch der Mutter der nicht überwundene Verlust des älteren Bruders Arnold sei (S. 48 f.). Hierauf entgegnet der Ich-Erzähler, dass die Mutter ihn bereits darüber informiert habe, dass Arnold noch am Leben sei. Nun erfährt der Ich-Erzähler vom Vater, dass auch diese Wahrheit nicht vollständig ist.

      Seit Jahren schon, so erklärt der Vater, suchen die Eltern mit Hilfe des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes nach Suche nach Arnold Arnold. Und jetzt sei jemand gefunden worden, »bei dem es sich um Arnold handeln könnte« (S. 50). Den Ich-Erzähler, bei dem die Neuigkeiten die »alte Übelkeit« (S. 50) hervorrufen, bittet der Vater nun um Hilfe. Da das Jugendamt noch Zweifel habe, müsse er daran mitwirken, die Verwandtschaft mit dem » Findelkind 2307Findelkind 2307« (S. 52) zu bestätigen. Der Sohn reagiert verwundert: »Der Vater hatte mich noch nie um etwas gebeten« (S. 50).

      Der Vater betont, es gebe schon jetzt viele Anzeichen dafür, dass es sich beim Findelkind um Arnold handle. Bei einem Termin auf der Suchdienststelle hätten die Eltern ein Foto des nun beinahe erwachsenen Findelkindes gesehen, das wie Arnold über »einen auffällig starken Haarwirbel an der rechten Seite« (S. 51) verfüge. Außerdem solle das Findelkind demselben Treck angehört haben wie die Eltern und dort am Schlüsseldatum 20. Januar 194520. Januar 1945 einer Frau übergeben worden sein – demselben Tag, an dem die Mutter Arnold aus den Händen gegeben habe. Nicht zuletzt habe das Findelkind eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Ich-Erzähler; er sei ihm »wie aus dem Gesicht geschnitten« (S. 55). Diese Formulierung ruft beim Ich-Erzähler unvermittelt »eine Art Magenkrampf« (S. 55) hervor, als würde er die »Schnitte spüren«; ihn durchzucken »Schmerzblitze« und sein Gesicht verzieht sich zu einem unfreiwilligen »krampfartige[n] Grinsen« (S. 56).

      Der Vater missversteht das Grinsen als unangemessene Reaktion des Sohnes. Er teilt dem Ich-Erzähler mit, dass sie nach dem Kuraufenthalt der Mutter ein Institut würden aufsuchen müssen, wo die Verwandtschaft mit dem Findelkind bestätigt werden solle. Da der Ich-Erzähler auch nach dem Gespräch mit dem Vater unter den Gesichtskrämpfen leidet, sucht er einen Arzt auf, der eine » Trigeminusneuralgie Trigeminusneuralgie« (S. 57) diagnostiziert. Der Arzt empfiehlt, abzuwarten, ob sich das Leiden von selbst erledigt. Die Krämpfe verschwinden jedoch nicht, und der Ich-Erzähler ist überzeugt davon, dass sie durch die Geschehnisse um seinen Bruder Arnold hervorgerufen werden (S. 57). Er möchte niemandem ähnlich sein, schon gar nicht Arnold.

      Die Vergleiche mit dem älteren Bruder führen dazu, dass der Ich-Erzähler eine einsetzende Selbstentfremdung Selbstentfremdung verspürt: »Jeder Blick in den Spiegel irritierte mich. Ich sah nicht mich, sondern Arnold, der mir zunehmend unsympathischer wurde« (S. 58).

      Die Mutter kehrt nahezu unverändert aus der Kur zurück. Ihre Stimmung ändert sich erst, als ein Kriminalbeamter in Begleitung des Revierpolizisten, Herrn Rudolph, ins Haus der Eltern kommt, um die Fingerabdrücke und Blutproben Fingerabdrücke der Familie für die weiteren Untersuchungen abzunehmen (S. 58). Sechs Wochen nachdem auch der Hausarzt Blutproben der Familienmitglieder entnommen und eingeschickt hat, erhalten die Eltern die Ergebnisse der Untersuchung vom Institut für Gerichtliche Medizin der Universität Münster (S. 59).

      Der Vater quält sich durch das Gutachten, das komplizierte Fachbegriffe enthält und in der Beurteilung einer möglichen Verwandtschaft mit Arnold uneindeutig bleibt. Der Befund, dass die Elternschaft bezüglich Arnold »wenig wahrscheinlich […], aber nicht unwahrscheinlicher als auch für das eheliche Kind der Antragsteller« (S. 60) ist, irritiert den Ich-Erzähler.

      Er Befürchtungen befürchtet, eventuell nicht das leibliche Kind seiner Eltern zu sein: »Ich wollte aber nicht unwahrscheinlich werden, sondern der bleiben, der ich war« (S. 61). Schließlich kommen der Ich-Erzähler und die Eltern zu unterschiedlichen Deutungen des Gutachtens. Sieht der Ich-Erzähler die Verwandtschaft mit Arnold als unwahrscheinlich an, gelangen die Eltern zum entgegengesetzten Urteil. Von weiteren Untersuchungen erhoffen sie sich doch noch eine Bestätigung der sehr unwahrscheinlichen Verwandtschaft mit dem Findelkind.

      Obwohl das Jugendamt abrät, beantragen die Eltern ein »Anthropologisch-erbbiologisches Abstammungsgutachten« (S. 62 f.). Da sich das Findelkind schon einmal einer Weitere Untersuchungen Begutachtung unterziehen musste, stimmt das Jugendamt vorerst nur einem Bildvergleich zu (S. 63).

      Um die hierfür benötigten Fotografien Fotos aller Familienmitglieder beizubringen, löst die Mutter schweren Herzens Arnolds Foto aus dem Album heraus (S. 63). Da vom Ich-Erzähler keine brauchbaren Bilder existieren, wird er zum Fotografen geschickt. Er betrachtet den Schaukasten, in dem Arbeiten des Fotografen ausgestellt sind. Für ihn kommt die Zurschaustellung der Fotografierten einem » Pranger Pranger« (S. 65) gleich. Die gezeigten Menschen erscheinen ihm wie »Tote« (S. 65).

      Da für die Untersuchung vor allem Fotografien seines Hinterkopfes und die »Ohrenhinteransicht« (S. 66) erforderlich sind, muss er sich auf Drängen des Vaters die Haare kurzschneiden lassen. Dies empfindet er als besondere Tortur, denn er »betrachtete [s]einen Hinterkopf in gewisser Weise als [s]einen schwächsten und unansehnlichsten Körperteil« (S. 67). Nach wiederum sechs Wochen erhalten die Eltern die Ergebnisse