Klaus Hübner

KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL


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»Im Gegensatz zu den wenigen anderen, die sich mit ihr messen können, war sie, Gertrud Kolmar, nicht entschieden, aber fraglos die größte deutsch-jüdische Dichterin im 20. Jahrhundert« (185). Oder: »Auf Celan kann die deutsche Sprache nicht verzichten, sowenig sie das Recht auch hat, auf ihn Anspruch zu erheben« (186). Zu derartigen Betrachtungen und Sentenzen – »Anne Frank ist das Lächeln Kafkas« (214) – treten prägnante Briefe oder Briefstellen von Dichterinnen wie Margarete Susman oder Marie Luise Kaschnitz, dem nach Jerusalem vertriebenen Dramatiker Max Zweig, dem im Londoner Exil lebenden Schriftsteller H. G. Adler, dem Romanisten und Sprachwissenschaftler Harald Weinrich, dem Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno, dem Theologen und Friedenskämpfer Rufus Flügge und vielen anderen Korrespondenzpartnern des Autors.

      1963 kam Elazar Benyoëtz zum ersten Mal nach Berlin, und bald darauf begann er mit der konkreten Arbeit an einem Projekt, das inzwischen Kanon- und Kultstatus besitzt und bis heute einmalig geblieben ist: die Bibliographia Judaica. »Ich lege meinen Weg zurück, ziehe mit Moses Mendelssohn von Dessau aus und eben durch das Rosenthaler Tor in Berlin ein … ich warte nur noch, bis Salomon Maimon eintrifft, mit dem ich mich besser unterhalten zu können hoffe als mit Mendelssohn« (64). Dieser gewaltigen bibliografischen Arbeit liegt eine Überzeugung zugrunde, die Elazar Benyoëtz so formuliert: »Zu einem tiefen, gut fundierten jüdischen Selbstverständnis würde heute, nach meinem Dafürhalten, die jiddische Sprache gehören – und die deutsche Literatur. In diesen beiden Sprachen hat jüdische Geistigkeit, wie immer sie gedeutet werden mag, ihren höchsten und im hier gedachten Sinn auch ihren letzten Ausdruck gefunden. Die deutsche Sprache spielte das jüdische Schicksal. Das Schicksal des jüdischen Volkes, von Jiddisch bis Auschwitz, ist deutsch geprägt. Was man für Jüdisch hält, was jüdisch haltbar ist, es lässt sich ohne Deutsch nicht breit genug denken, geschweige denn ausdenken« (89). Das nicht ohne Umwege verlaufene Entstehen der Bibliographia Judaica wird in Aberwenndig genauer geschildert, nicht ohne die Verdienste anderer Forscher und Gelehrter zu betonen, speziell die der engsten Mitarbeiterin: »Dass die Bibliographia Judaica als Lexikon deutsch-jüdischer Autoren heute in 21 Bänden abgeschlossen vorliegt, ist das Verdienst Renate Heuers« (282).

      Seit 1969, als er mit Sahadutha in Deutschland debütierte, hat Elazar Benyoëtz mehr als dreißig Bücher veröffentlicht. Zweifel auch am eigenen Tun sind ihm nicht fremd: »Lieber jeden Tag im Irrtum, als für immer im Recht« (219). Sein Werk hat große Anerkennung gefunden, von der Zuerkennung des Adelbert-von-Chamisso-Preises (1988) und der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande (1997) bis zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (2003) – die entsprechenden Redetexte finden sich in Aberwenndig auch. Dennoch ist Elazar Benyoëtz nicht sehr bekannt. Was es bedeutet, nach dem brutalen Einschnitt des Holocausts im 20. und 21. Jahrhundert Jude zu sein, erfährt man durch sein Werk. Er spricht aus einer anderen Zeit, und er spricht aus der Fremde. Seine Art des Dichtens und Denkens steht quer zu einem Zeitgeist, dem das möglichst mühelose und möglichst unterhaltsame Konsumieren von Medien aller Art den Zugang zu einer Weisheit blockiert, deren gedankenreiche Widerständigkeit ohne Reflexion und Empfindsamkeit nicht zu haben ist. Aber wer mag heute noch hinhören, nachfühlen, sich verzaubern lassen, mitdenken und bedenken? Wohl kaum ein anderer zeitgenössischer Autor hat einen ähnlich emphatischen Begriff von Poesie. Das Wichtigste an seinen Texten ist der Denkraum, den sie mit nur wenigen Worten öffnen. Wer sich von der Literatur nicht ausschließlich Nutzen und Vergnügen, sondern noch dazu das Öffnen solcher Denkräume erwartet, der blättere in den Büchern von Elazar Benyoëtz. Im Herbst 2018 ist bei Königshausen & Neumann ein weiteres Werk erschienen: Feindeutig. Zwei kleinere Publikationen sind anderswo in Vorbereitung. Seit Kurzem liegt im Erev-Rav Verlag ein Sammelband mit dem Titel Zitat und Zeugenschaft. Eine Spurensuche im Werk von Elazar Benyoëtz vor. An Lektüren mangelt es nicht.

      Elazar Benyoëtz: Aberwenndig. Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche. Würzburg 2018: Verlag Königshausen & Neumann. 429 S.

      Unerhörte Begebenheiten im Land der Pharaonen. Christoph Braendles Novelle über den Unterschied zwischen einem Engel

      Christoph Braendle, 1953 geboren, ist der relativ seltene Fall eines dichtenden Schweizers aus Wien – beziehungsweise eines bemerkenswerten Wiener Schriftstellers Schweizer Herkunft. Seit 1987 lebt er an der Donau und schreibt Theaterstücke, Prosa, Essays, Reportagen und Artikel vielerlei Art, und weil er nicht nur einen genauen und eigentümlichen, sondern auch immer noch einen fremden Blick auf die österreichische Metropole hat, war er genau der Richtige, um zu der ungewöhnlich liebevoll gestalteten Buchreihe Picus Lesereisen den Wien-Band beizusteuern. Er heißt Liebe, Freud und schöner Tod und ist für poetisch gestimmte Wienliebhaber und Wienreisende ein sogenanntes Muss. Die Grenzen zwischen Tatsachen und Literatengarn allerdings muss der Leser schon selbst entdecken. Das gilt noch weit mehr für Braendles neuesten Lesereisen-Band mit dem literarisch ambitionierten Titel Der Unterschied zwischen einem Engel – Ägyptische Novelle. Wenn Engel reisen – nun gut; wenn sie aber, wie man hier schon nach den ersten Sätzen bemerkt, auch noch schreiben können, dann freut sich der Leser. Zu Recht. In diesem Falle erfährt er erst einmal viel über das Ägypten von heute – über seine faszinierende Millionenmetropole Kairo, über den Sinai, über Suez, Luxor und Alexandria, über den Nil, über die großen Wüsten und ihre geheimnisvollen Oasen. Aber auch über unerträgliche Abgaswolken über den Staus der Hauptstadt und eine nicht zu kontrollierende Bevölkerungsexplosion, über die reale Armut der meisten Ägypter und die vagen Zukunftshoffnungen junger Leute, über die Versprechungen und die Absurditäten des trotz mancher Risiken seit Jahren anhaltenden Touristenbooms. Und über unergründliche interkulturelle Begebenheiten auf Nilschiffen und Kamelrücken. Haben wir also einen nützlichen schmalen Reiseführer vor uns? Auch – und eben gerade nicht.

      Womit wir beim Kern der Sache wären, nämlich bei der Literatur, die jüngst ein anderer Schweizer Autor, Markus Werner, um den Roman Der ägyptische Heinrich bereichert hat, eine schöne, aber streckenweise auch ein wenig zähe Ägyptenlektüre. »Zäh« oder »harzig« aber sind Attribute, die auf Christoph Braendles kurzweilige, partienweise sogar durchaus komische Novelle am allerwenigsten zutreffen. Sein Unterschied zwischen einem Engel ist ein erstaunlicher Prosatext, ein sprachlich geschliffenes, vor (Selbst-) Ironie berstendes, mit Zitaten und literarischen Anspielungen gespicktes und dabei entspannt und unangestrengt daherkommendes kleines Meisterstück aus der Werkstatt eines der Welt mit Liebe zugewandten Literaten der stilistischen Extraklasse. Das heißt für den Leser: Ein gewisses Interesse für Ägypten wäre keine ganz schlechte Voraussetzung für die Braendle-Lektüre, und dennoch darf man sich auch ohne engere Beziehung zu Eseln, Kamelen und Wüstensand auf diese Novelle freuen. Aber der Reihe nach.

      Der Protagonist heißt Paul und ist ein Esel, in gewisser Hinsicht jedenfalls. Weil das so ist, wird er von seinem Chef, dem Doktor Renner, zu einem Kongress nach Kairo geschickt – dort sollen sich die Eselsforscher treffen, die berühmtesten Asinologen der Welt. Und er, der Nicht-Akademiker Paul, er darf dabei sein. »Kairo. Wie das klingt. Und wie es nachklingt, lockt und verführt … Ich hab’ eine Arbeit, sagt er, eine gute, liebe Frau. Obwohl, denkt er, die Sehnsucht, denkt Paul … Zum Kollegen Simatovic sagt er, man kann in Wien leben und trotzdem Wünsche haben.« Zehn Tage soll die Reise währen, für Unterkunft ist gesorgt, und der flugscheue Paul wird mächtig nervös. Aber kaum ist er auf ägyptischem Boden, kommt er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kairo nimmt ihn gefangen. Seine Gastgeber erklären ihm die Stadt, in der ungefähr dreimal so viele Menschen leben wie in der gesamten Schweiz und in der der Wahnsinn das einzige Ordnungsmuster zu sein scheint, auf das Verlass ist. Und immer wieder taucht irgendein Esel auf, als schlecht behandeltes Alltagslasttier und zugleich als spätestens seit Bileam aus dem Buche Moses literarisch belastetes Dingsymbol. Prächtige Gebäude sind zu bestaunen, bemerkenswerte Kaffeehäuser ganz ohne Wiener Flair tun sich auf, Kamele kreuzen Pauls Wege, und dann die kleinen Hausboote auf dem imposanten Fluss – kurzum: Paul verliebt sich in seine neue Umgebung, der Rückflug wird auf unbestimmte Zeit verschoben, und Braendles romantisch gestimmter und dennoch ganz unsentimentaler Held zieht ins Gelobte Land, unterquert den Suezkanal, besucht das Katharinenkloster und besteigt den Berg Sinai. »Ich muss nur wissen, was der Unterschied zwischen einem Engel ist, denkt er im Traum,