Öfter geschieht es, dass sie mich besucht.
In diesem Leben war Anne klug. Jetzt ist sie das noch viel mehr. Sie war intelligent. Jetzt strahlt ihr Geist vor Brillanz.
Als sie gestorben war, lag ich neben ihr, meine Hand noch auf ihrer Brust. Ich konnte mich nicht rühren. Ich rang nach Luft. Dann hörte ich sie sagen: »Steh auf. Mach weiter.«
Ich konnte förmlich spüren, dass sie mir körperlich einen Stoß versetzte. Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr nah war. Schließlich stand ich vom Bett auf und setzte mich neben sie. Wir riefen die Krankenschwester, die nach etwa einer halben Stunde kam und Annes Tod feststellte.
Da lag sie, eine Ruine. Mein Gott. Sie hatte dieser Welt so viel Wert beigemessen und war doch selbst während ihres Lebens so sehr ignoriert worden. So, wie ich gleich bei unserer ersten Begegnung erkannt hatte, was in ihr steckte, sah ich, welchen Beitrag sie für die Welt geleistet hatte. Sie hatte etwas fundamental Neues über die Natur der Menschheit und unseren Platz im Universum herausgefunden. Wie wir noch sehen werden, vermittelt das, was sie lernte und lehrte – und auch weiterhin lehrt – uns nicht nur, was unser Platz in der Welt ist, sondern verrät uns auch, warum diese sonderbare Erfahrung, die wir Leben nennen, geschieht.
Kurz nachdem Annes Tod offiziell bestätigt war, kamen zwei Angestellte der medizinischen Fakultät und holten ihren Körper ab. Sie hatte ihn den Medizinstudenten vermacht, sodass er auch noch nach ihrem Tod der Erweiterung des Wissens dienen würde, ganz entsprechend ihrer Bestimmung als Lehrerin.
Das war sehr schwer für mich und meinen Sohn. Der Gedanke, dass sie obduziert werden würde, statt beerdigt oder im Beisein ihrer Angehörigen eingeäschert zu werden, war sehr, sehr schwer zu ertragen. Aber sie hatte es sich gewünscht, und wie fast alles, was unsere sanfte Lehrerin tat, war es auf vielen verschiedenen Ebenen eine Lektion, die nicht zuletzt darin bestand, dass wir nicht an ihrer physischen Gestalt festhalten sollten.
Wie in vielen spirituellen Disziplinen gibt es im Werk Gurdjieffs, dessen Schule wir uns 1970 anschlossen und dessen Lehre bis heute eine wichtige Rolle in meinem Leben spielt, den Begriff der »Identifikation«. Wir identifizieren uns mit dem, was wir lieben, und kommen dabei vom Weg unseres eigenes wahren Selbst ab.
Anne war eine Expertin für Identifikation. Sie sprach nie offen darüber, aber wenn ihr eine Identifikation auffiel, ging sie sofort dagegen an. Daher war mir klar, dass ihre Entscheidung, ihren Körper nach dem Tod der Medizin zur Verfügung zu stellen, nicht nur zum Wohl der Medizinstudenten geschah, sondern auch meinem Sohn und mir Gelegenheit geben sollte, unsere Identifikation mit Annes physischer Gestalt zu erkennen und uns davon zu befreien.
Auf das Fleisch kommt es nicht an, und Anne hatte ihren Körper aufgebraucht. Er war für sie nicht mehr von Nutzen, und daher war es das Beste, ihn nun als Lernobjekt für andere zu verwenden. Und das geschah dann auch, genau wie sie es wünschte.
Ich hatte allen, die uns in den letzten Tagen beigestanden hatten, versprochen, sie zu informieren, wenn Anne gestorben war. Um 19:45 Uhr schickte ich ihnen die Textnachricht. Einer von ihnen, Leigh McCloskey, schlug daraufhin Rainer Maria Rilkes Letters on Life auf, und sein Blick fiel auf folgende Textstelle:
»Der Tod gehört zum Leben und es wundert mich, dass man so tut, als wüsste man es nicht: Der Tod, dessen erbarmungsloses Sein wir bei jedem Wandel verspüren, den wir überleben, weil man lernen muss, langsam zu sterben. Man muss lernen, zu sterben: Darin besteht das ganze Leben. Von ferne das Meisterwerk eines stolzen höchsten Todes vorzubereiten, bei dem der Zufall nichts ist, eines gut gelungenen Todes, selig, begeistert, wie ihn die Heiligen zustande brachten; eines lange gereiften Todes, der seinen verhassten Namen selbst auslöscht und nichts als eine Geste ist, die dem namenlosen All die erkannten und erretteten Gesetze eines wahrhaft vollendeten Lebens zurückgibt.«1
Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht schlug Anne diese Seite für ihn auf, machte ihm diesen Text zugänglich. Das sage ich nicht ohne Grund, denn nur Augenblicke später, etwa zehn Minuten nach ihrem Tod, fand ich in unserem Arbeitszimmer ein Buch, das auf den Boden gefallen war. Dieses Buch, Roy Friedens Physics from Fisher Information, lag so, dass eine Seite aufgeschlagen war, auf der Anne vor Jahren folgenden Satz markiert hatte:
»Am Beginn des Universums trat eine einzelne Beobachtung der Metrik auf. Diese erzeugte die Wheeler-DeWitt-Gleichung für das reine Strahlungsuniversum, das damals existierte. Mit anderen Worten, die Gravitationsstruktur des Universums wurde aus einer einzigen, ursprünglichen Suche nach Wissen erzeugt.«2
Ich fragte die im Haus Anwesenden, ob sie das Buch in den vergangenen Minuten aus dem Regal genommen hatten, denn es war von Anne und mir schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden.
Alle verneinten.
Ich musste daran denken, dass ein berühmter Chirurg mir einmal erzählt hatte, wie ihm alle Details einer wichtigen Operationsmethode offenbart worden waren, die er entwickelt hatte. (Diese Geschichte findet sich nicht in seiner Biografie, und deshalb erwähne ich seinen Namen nicht. In dieser merkwürdigen Welt, in der wir leben, könnte sonst der Ruf eines großartigen Mannes beschädigt werden, der jede Ehrung, die ihm zuteil wurde, voll und ganz verdient.) Er war mit einer Herzbeutelentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er hatte starke Beschwerden und rief nach den Krankenschwestern, aber niemand kam. Doch plötzlich glitt eine Frau in einem langen weißen Gewand in sein Zimmer. Sie griff mit ihren Händen in seine Brust hinein. Dann glitt sie wieder davon. In diesem Moment sah er die Operationsmethode, deren Pionier er werden würde, in allen Einzelheiten vor seinem inneren Auge. Augenblicke später eilten die Krankenschwestern in sein Zimmer. Sie erklärten ihm, dass sie im Nebenzimmer beschäftigt waren, wo gerade eine alte Frau gestorben sei. Er sagte mir, er sei überzeugt, dass die Seele dieser gestorbenen Frau ihm die Informationen überbracht habe, bevor sie auf die andere Seite ging.
Anne liebte diese Geschichte, und wir sprachen oft darüber. Daher war es nur logisch, mir eine bedeutungsvolle Information zu hinterlassen, wenn sie ging. Sie wusste, dass ich den Fingerzeig verstehen würde.
Später an diesem Abend, um 21:20 Uhr, war sie gerade abgeholt worden. Nach all diesen Jahren war sie fort, und ich fühlte zum ersten Mal, welche Leere sie in meinem Leben hinterließ. Allein saß ich da, sinnentleert, und ich fragte sie, ob sie noch existierte, und wenn ja, ob sie mich kontaktieren könne. Ich fragte das mit der größtmöglichen Intensität meiner inneren Stimme. Einen Moment später klingelte das Telefon. Belle Fuller, eine gute Freundin, war am Apparat und sagte, sie hätte gerade innerlich eine Botschaft von Anne empfangen, dass sie mich anrufen solle. Ich war so dankbar und überrascht, dass ich kaum sprechen konnte. Belle wusste noch gar nicht, dass Anne gerade gestorben war.
Als ich den Leichenwagen, in dem Annes geliebter Körper lag, davonfahren sah, tauchte ein sonderbarer Nebelschleier auf. Ich machte ein Foto des Wagens, als er an der Straßeneinmündung anhielt. Seine Bremslichter glühten inmitten anderer Farben in dem seltsamen, zarten Dunst.
Auf dem im Dunklen aufgenommenen Foto sind diese mit bloßem Auge sichtbaren Farben nicht zu erkennen, aber man sieht den Nebelschleier klar und deutlich.
Wie sich herausstellte, war der Nebelschleier die erste Manifestation von Phänomenen, die auftreten, wenn bestimmte Seelen dieses Leben verlassen. Die Tibeter nennen solche Seelen »Regenbogenkörper«. Oft tauchen in diesem Zusammenhang auch Regenbögen auf, und als ich ein paar Tage später zu Annes Trauerfeier fuhr, erschien ein Regenbogen nach dem anderen. Auch sie fotografierte ich, während ich mit meinem Sohn im Auto saß.
Anne hätte gelacht, wenn jemand sie als eine große Seele bezeichnet hätte, aber genau das ist sie, und nicht nur das: Sie ist noch immer sehr dieser Welt zugewandt – und zwar, da bin ich mir sicher, wegen der Mission, die ihr so wichtig ist.
Jenseits unserer gegenwärtigen Realität gibt es eine Neue Menschheit. Wir sind die eine Hälfte dieser Menschheit, immer noch von dunklen Ängsten geplagt und verwirrt. Wir leben auf der, wie Anne es nennt, »Ebene der Gewalt«. Die andere Hälfte erwartet uns mit offenen Armen, um uns zu der Vereinigung willkommen zu heißen, die unsere