Abschied ist eine Qual. Punkt. Wäre sie während dieser ersten Stunden ins Leben zurückgekehrt und hätte mir ins Gesicht geschrien, ich hätte sie vermutlich nicht gehört.
Einer der ersten Sätze, den ich sie zu mir sagen hörte, lautete: »Trauer ist eine andere Form von Liebe.« Da erkannte ich, dass ich sie eigentlich liebte, wenn ich um sie trauerte. Und natürlich trauere ich. Ich vermisse sie auf jeder Ebene meines Seins. Obwohl ich mit ihr kommunizieren kann, vermisst mein Körper ihren Körper so sehr, und das lässt sich nicht ändern.
Das zu verstehen, versetzte mich in die Lage, meine Trauer zum Teil meiner Arbeit zu machen, sie zu respektieren und zu lieben, sie aber auch zu nutzen, um mich bewusst auf Annes Gegenwart und ihre Worte zu konzentrieren, statt zuzulassen, dass alle diese neuen Möglichkeiten unter meinen Tränen begraben wurden. Sie hatte sich sorgfältig auf das vorbereitet, was kommen würde. Ich hatte mich ebenfalls vorbereitet, aber nicht annähernd so gut. Ich wünschte mir so sehr, dass sie bei mir blieb, und deshalb schaffte ich es kaum, an ihren Tod zu denken, und schon gar nicht auf diese ruhige, leidenschaftslose Art, mit der sie sich ihrem physischen Ende näherte.
Ich wusste es damals noch nicht, aber schon sechs Monate vor ihrem Tod bereitete sie mich darauf vor, meinen Teil unserer Mission auszuführen. Sie tat das auf die für sie typische subtile Art. Sie bat mich, ein Gedicht auswendig zu lernen, das mir, wie wir sehen werden, ganz zentral dabei hilft, ihre Absichten zu verstehen. Außerdem ist es ein zentrales Element des Beweises, den Anne dafür erbracht hat, dass sie weiterhin bewusst und gegenwärtig ist.
In dem Gedicht »Das Lied des wandernden Aengus« von W. B. Yeats wird von der lebenslangen Suche des irischen Landsmanns Aengus nach einem »schimmernden Mädchen« berichtet, das sogleich, nachdem es wie durch Zauberei in seinem Leben auftauchte, aus seinen Armen glitt und in einem Reich verschwand, das man wohl den Himmel nennen kann.
Dieses Gedicht über die Suche eines Mannes ist zu meiner Lebensgeschichte geworden.
Wenn jemals ein Liebespaar wie durch Zauberei zueinander fand, dann Anne und ich. Wir waren zwei junge Leute in New York City, die beide den Auskunftsbogen einer Partnervermittlung ausfüllten. Wir waren einander nie zuvor begegnet. Wir hatten keine gemeinsamen Freunde. Wir lernten uns kennen, weil wir jeweils auf der Vorschlagsliste standen, die uns von der Partnervermittlung zugeschickt wurde.
Von dem Tag, als wir uns das erste Mal trafen, bis zu dem Tag, als Anne dieses Leben verließ, waren wir nur ein einziges Mal nicht beisammen, und zwar für nur zwei Wochen.
Die Art, wie Anne dieses Gedicht und seine Metaphern in unser neues gemeinsames Leben eingewebt und mir immer wieder bewiesen hat, dass diese Beziehung wirklich existiert, hat mich mit der schönsten und reichsten Erfahrung beschenkt, die ich je machen durfte. Aufgrund dieser Erfahrung kann ich Ihnen versichern, dass in Ihnen, wenn Sie mit geliebten Verstorbenen in Kontakt treten, eine nie gekannte Herzenswärme und Glücksgefühle geweckt werden. Ihr ganzes Leben wird erneuert, und Sie werden das Staunen wiederentdecken.
Aber selbst für jene, die bereits mit Jenseitskontakten vertraut sind, werden Fragen offen bleiben – das ist richtig, muss so sein und macht, offen gesagt, einen wesentlichen Reiz dieses ganzen Abenteuers aus. Festgefügte Glaubensvorstellungen sind Mauern. Fragen sind Türen.
Trotz all unserer Wissens- und Erkenntnisfortschritte wiegt das Universum den menschlichen Verstand weiterhin in Unsicherheit und Unbekanntem. Wir sollten diese offenen Fragen nicht verdrängen, indem wir »daran glaube ich« oder »das glaube ich nicht« sagen. Viel besser ist es, den Glauben ganz aufzugeben und wie Anne zu bekennen: »Ich habe Fragen. Ich wundere mich. Ich staune.«
Bevor Anne ins Nicht-Physische hinüberging, gab es in mir nur ein Selbst. Heute ist da noch ein zweites Selbst, und es ist kein von Trauer geplagter Wanderer, sondern ein Reisender, der zwei Wege gleichzeitig beschreitet, einen in dieser Welt und einen in der anderen Welt.
Annes Lebensthema war Freude, was für sie bedeutete, alles zu akzeptieren, was geschah, anderen Menschen mit Liebe zu begegnen und, vor allem, viel zu lachen. Oft zitierte sie diesen wunderbaren Satz Meister Eckharts, eines Mystikers und Theologen des vierzehnten Jahrhunderts: »Gott lacht und spielt.« Lachen ist Licht, und bei der inneren Suche, so wie Anne sie verstand, geht es darum, dieses Licht in uns selbst zu finden.
Es gibt viele Gründe, warum wir nicht in klarem, guten Kontakt zu den Toten stehen. Ein Grund ist, dass sie anders als wir sind. Sie sind keine unsichtbaren Versionen unserer selbst, sondern leben nach anderen Gesetzen. Dazu sagte Anne: »Ich bin nicht mehr Anne. Ich bin ich. Aber für dich, Whitley, werde ich immer Anne sein.« Sie beschreibt sich selbst und die Legion der Toten so: »Wir sind eine Unendlichkeit der Träume.« Aber täuschen Sie sich nicht: Diese Träume sind lebendige Gegenwarten, und sie warten darauf, dass wir die Brücke zwischen unseren Welten begehen. Anne sagt auch: »Ich bin der Teil von mir, der ein Teil von dir ist.«
Jene, die ohne Körper sind, besitzen einerseits eine viel stärkere Individualität, als es einem physischen Wesen je möglich wäre, aber sie verfügen auch über Ganzheitsbewusstsein, ohne Anfang und Ende, das außerhalb der Zeit existiert und die Zeit enthält. Ihre geliebten Verstorbenen, Mutter, Vater, Ehefrau, Kind, existieren gleichzeitig weiter als die Person, die sie bei Ihnen waren, und als alle Personen, die sie jemals waren, und als alles Sein.
Als Folge unserer Seelenblindheit versuchen wir, wenn wir dem Tod ins Auge sehen, alles Erdenkliche, um unser Leben so lange wie möglich auszudehnen. Und wenn wir sterben, geschieht das sehr oft in Angst und mit dunklen Vorahnungen, manchmal in Resignation, und die, die wir zurücklassen, hören in der Regel nie wieder irgendetwas von uns.
Das liegt nicht etwa daran, dass die Toten nicht versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen.
Als ich Anne danach fragte, antwortete sie: »Als du mich zum ersten Mal ignoriertest, war ich irritiert. Dann wurde ich rasend vor Wut. Ich schrie dich an. Du verhieltest dich so, als ob ich gar nicht existierte. Es war seltsam und verwirrend.«
Seit diesen Anfangsschwierigkeiten haben wir einen langen gemeinsamen Weg zurückgelegt. Inzwischen habe ich gelernt, ihr zuzuhören, und ich weiß, wie ich sie in mich hineinlassen kann. Kommunikationen mit Anne sind flüchtig und kurz, erfolgen von ihrer Seite aus oft überraschend und unerwartet, und ich erkenne sie am »Aroma« von Annes Präsenz. Ich trage inzwischen immer ein Notizbuch bei mir, weil ich ihre Worte sonst schnell vergesse, wenn sie, oft in Sekundenschnelle, vorbeifliegen. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass sie nicht meine Gedanken, nicht Teil meines Bewusstseins sind und es in meinem Gehirn für sie keinen Landeplatz gibt. Wie ein Aufblitzen auf dem Flügel eines vorbeigleitenden Vogels sind sie da und gleich schon wieder fort.
Zurück lassen sie: Staunen und die von Anne so geliebten Fragen. Dass Communion (Die Besucher) mit einer Reihe von Fragen endet, ist ganz auf Annes Einfluss zurückzuführen. Während sie mein Manuskript las, sagte sie immer wieder: »Whitley, das weißt du doch gar nicht. Formuliere es zu einer Frage um.«
Die große Menschheitsfrage lautet: »Werde ich nach dem Tod weiterleben?« Sie ist einfach, universell und macht uns allen zu schaffen, immer wieder. Die Wissenschaft beharrt mit ihrer ganzen Autorität darauf, dass wir nichts als sterbliches Fleisch sind, womit sie unsere Furcht vor der Auslöschung verstärkt. Gleichzeitig erschwert die materielle Welt mit ihrer ständig wachsenden, faszinierenden Komplexität es uns immer mehr, die leise innere Stimme der Seele zu hören.
Doch während viele von uns sich überhaupt nicht mehr für die Seele interessieren, erheben viele andere ihre Stimme und erklären, dass es ein Leben nach dem Tod wirklich gibt. Im Jahr 2011 schrieb der Forscher Pim Van Lomel in den Annalen der New Yorker Akademie der Wissenschaften, dass neun Millionen Menschen in den USA von eigenen Nahtoderfahrungen berichten. Anne gehörte zu diesen Menschen, und wie viele von ihnen kehrte auch sie völlig von der Angst vor dem Tod befreit in dieses Leben zurück. Wie die meisten wurde sie durch die moderne Medizin zurückgeholt.
Welche Ironie ist es doch, dass wir eine der wichtigsten Grundlagen von Die Seele im Jenseits ausgerechnet jener Wissenschaft verdanken, die uns einreden will, die Seele existiere gar nicht!