Carmen von Lindenau

Die neue Praxis Dr. Norden 7 – Arztserie


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wir allein nicht schaffen«, stellte Britta fest, als sie auf die großen Trümmerteile schaute, die sich über Thomas auftürmten. »Leute, wir brauchen Hilfe. Thomas ist verschüttet. Erdgeschoss Treppe auf elf Uhr«, gab sie ihren Standort an ihre Kollegen über Funk weiter.

      Alle, die es gehört hatten, antworteten ihr, dass sie sich sofort auf den Weg machten, sobald die laufenden Rettungseinsätze abgeschlossen waren.

      »Hilf mir!«, herrschte Lydia Britta an, als sie damit begann, die Steine, die sie bewegen konnte, wegzuräumen.

      »Sei vorsichtig«, bat Britta sie, als sie einen der schwereren Steine hochzuheben versuchte. »Denk daran, nichts Unüberlegtes tun«, erinnerte sie Lydia an die Eigensicherung.

      »Es ist Thomas, ich kann nicht auf die anderen warten«, entgegnete Lydia mit verzweifelter Miene.

      »Ja, ich weiß«, sagte Britta und half ihr, den schweren Stein auf die Seite zu räumen. »So schnell wird keiner zu uns kommen«, stellte sie fest, als im ersten Stock wieder eine Explosion zu hören war und Stichflammen in die Höhe schossen.

      »Machen wir weiter«, forderte Lydia sie auf.

      »Was ist los?«, flüsterte Thomas, als es Britta und Lydia gemeinsam gelang, ihn von einem größeren Trümmerteil zu befreien, das auf seinem Oberkörper gelegen hatte.

      »Ganz ruhig, wir holen dich hier raus«, versicherte ihm Lydia, als sie und Britta das nächste Trümmerteil anhoben. »Thomas, bleib bei uns!«, rief sie, als er plötzlich nach Luft rang. Während sie ihre Hand auf seine Wange legte, zog sie ihr Telefon aus der Jackentasche und rief Dannys Handynummer auf. »Daniel, Thomas ist verletzt, ich brauche Hilfe«, sagte sie, als er sich meldete.

      »Ich bin gleich da«, versicherte er ihr, nachdem sie ihm gesagt hatte, wo sie sich befanden.

      »Atme, Thomas, atme!«, rief Lydia, als er plötzlich die Augen verdrehte. Sie beugte sich über ihn und begann sofort, ihn durch die Nase zu beatmen, als ihr klar wurde, dass seine Atmung aussetzte. »Thomas, bitte!«, rief sie, als er nicht reagierte. Sie hatte schon viele Rettungseinsätze mitgemacht, sie wusste, dass es nicht gut um Thomas stand, nicht mit diesen schweren Trümmern, die noch immer auf ihm lagen.

      »Lydia, ich löse Sie ab«, sagte Danny, der zusammen mit Sophia gleich darauf zu ihnen kam.

      »Bitte, machen Sie, dass er wieder zu sich kommt«, flehte sie Danny an, als er neben Thomas in die Hocke ging.

      »Komm, Lydia, lass sie das übernehmen«, sagte Britta und zog Lydia von Thomas fort, als auch Sophia dazu kam, um sich gemeinsam mit Danny um Thomas zu kümmern. »Er wird wieder«, versicherte Britta Lydia.

      »Ja, sicher, das sagen wir den Angehörigen auch immer«, murmelte Lydia und schaute auf die Verletzten, die von den Feuerwehrleuten geborgen und nach draußen in Sicherheit gebracht wurden.

      »Ruhig weiteratmen, Thomas«, hörte Lydia Danny gleich darauf sagen, und sie spürte, wie sich ihr Herzschlag sofort verlangsamte, als ihr klar wurde, dass Danny ihn wiederbelebt hatte. Sie hatte ihn noch nicht verloren.

      Gleich darauf kamen die Männer der Rüstgruppe. Daniel und Sophia machten ihnen Platz, damit sie Thomas aus den Trümmern befreien konnten. Das sieht gar nicht gut aus, dachte Lydia, als sie die etwa dreißig Zentimeter lange Eisenstange sah, die in Thomas’ Bauch steckte. Außerdem hatte er eine blutende Wunde an seinem rechten Oberschenkel.

      »Ich versorge die Wunde«, sagte Danny und war sofort wieder bei Thomas.

      Sophia assistierte ihm, reichte ihm das Desinfektionsmittel und das Verbandsmaterial, das sie aus seiner Arzttasche herausnahm.

      »Die Stange muss im Krankenhaus entfernt werden«, stellte Danny fest, nachdem er sich den Eintrittswinkel des Metallteils angesehen hatte.

      »Weil dieser Fremdkörper möglicherweise ein Organ verletzt hat oder es zu einer lebensbedrohlichen Blutung kommen könnte, falls es ohne vorherige Röntgenaufnahme entfernt wird, das ist mir klar«, sagte Lydia, um Danny wissen zu lassen, dass ihr bewusst war, dass er Thomas nicht weiter vor Ort versorgen konnte.

      »Wird er durchkommen, Daniel?«, wollte Lydia wissen, nachdem ihre Kollegen Thomas befreit hatten und ihn den Sanitätern übergaben, die Sophia inzwischen gerufen hatte und die mit einer Trage hereinkamen.

      »Davon gehen wir einfach aus«, sagte Danny. Über etwas anderes wollte er auch nicht nachdenken. Er kannte Thomas inzwischen ziemlich gut. Seit ihrem gemeinsamen Training für einen Wettbewerb im Bogenschießen waren sie befreundet, und er weigerte sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass Thomas dieses Unglück nicht überleben würde.

      »Ich fahre mit ins Krankenhaus«, erklärte Lydia.

      »Ja, natürlich machst du das«, entgegnete Britta und streichelte ihr kurz über die Schulter.

      »Melde dich!«, rief Sophia ihr nach, als sie den Sanitätern folgte, die Thomas zum Krankenwagen brachten, aber Lydia antwortete nicht, ihre Aufmerksamkeit galt allein Thomas. »Gehen Sie bitte aus dem Weg«, herrschte sie den Mann an, der draußen auf dem Parkplatz ihren Weg kreuzte, so als hätte er auf sie gewartet.

      »Wie geht es ihm?«, fragte er Lydia, fuhr sich mit der Hand durch sein Haar und sah der Trage nach, auf der Thomas lag.

      »Nicht gut«, antwortete sie und streifte den Mann in dem mit Ruß und Betonstaub befleckten dunklen Anzug mit einem kurzen Blick. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig, und so wie er über den Rand der Designerbrille, große Gläser, schwarzer Rahmen, hinweg schaute, schien er unter Schock zu stehen. »Lassen Sie sich von einem Sanitäter oder Arzt untersuchen«, forderte sie ihn auf. Sie war sicher, wem auch immer er sich anvertraute, derjenige würde gleich feststellen, dass es dem Mann zumindest psychisch nicht gutging.

      Thomas’ Kollegen bekamen keine Verschnaufpause. Kaum hatten sie Thomas aus den Trümmern befreit, wurden sie bereits wieder in einen anderen Teil des Gebäudes gerufen, um weitere Opfer zu befreien. Auch Britta musste wieder zu ihren Kollegen, die weitere Brandherde im ersten Stock entdeckt hatten.

      »Er konnte seine Beine nicht bewegen«, sagte Sophia, als sie mit Danny das Gebäude verließ, um draußen auf dem Parkplatz bei der Versorgung der Verletzten mitzuhelfen. Sie hatte Thomas’ Bergung beobachtet, und ihr war nicht entgangen, dass seine Beine auf keinerlei Berührung reagiert hatten.

      »Das muss noch gar nichts heißen«, entgegnete Daniel, obwohl natürlich auch ihm klar war, dass das Gewicht, das auf Thomas gelastet hatte, möglicherweise erhebliche innere Verletzungen verursacht haben könnte. »Wir sollten uns um die beiden dort kümmern«, sagte er und deutete auf die jungen Frauen, die nebeneinander an der Motorhaube eines roten Kleinwagens lehnten und an den Armen und Beinen bluteten.

      »Wir werden wohl hier noch eine Weile gebraucht«, stellte Sophia fest, als sie sich auf dem Parkplatz umschaute. Nach den vielen Verletzten zu urteilen, die dort gerade versorgt wurden, waren an diesem Morgen ganz offensichtlich schon viele Kunden im Möbelhaus unterwegs.

      *

      Lydia saß hinten im Krankenwagen und hielt Thomas’ Hand. Die Sanitäter hatten ihm eine Sauerstoffmaske aufgesetzt und Elektroden an seinem Oberkörper befestigt, um seine Atmung und seine Herztätigkeit zu überwachen. Obwohl sie Karl, den jungen Sanitäter, kannte, der mit ihr hinten im Wagen saß, da sie sich schon hin und wieder bei Großeinsätzen der Feuerwehr begegnet waren, sprach sie kaum ein Wort mit ihm. Sie hatte solche Angst um Thomas und starrte nur auf den Monitor, der seine Lebensfunktionen anzeigte.

      »Er wird wieder«, versicherte ihr Karl, als er sah, wie sie mit den Tränen kämpfte.

      »Danke, dass du mich trösten willst, aber noch wissen wir leider gar nichts, und ich bin sicher, dass auch dir das klar sein dürfte«, entgegnete sie.

      »Egal wie, du musst einfach das Beste hoffen«, ließ sich Karl nicht entmutigen, ihr Trost zuzusprechen.

      Als sie ein paar Minuten später die Notaufnahme der Uniklinik erreichten, litt Thomas erneut unter Atembeschwerden und wurde sofort in den nächsten OP gebracht. Karl und seine Kollegen mussten