Viola Maybach

Der neue Dr. Laurin 26 – Arztroman


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Der neue Dr. Laurin – 26 –

      »Etwas stimmt mit ihm nicht!«, stellte Pia Moor fest. »Der wohnt jetzt seit vier Wochen in der Wohnung über uns – aber glaubst du, er würde auch nur einmal kurz anhalten, um mehr zu sagen als ein knappes ›Guten Morgen‹? Fehlanzeige. Er hat sich nach seinem Einzug vorgestellt, seinen Namen gesagt, und dann ist er ganz schnell wieder ­gegangen. Seitdem: Nichts mehr, null.«

      Sieglinde Cornelius, Pias Tante, versuchte es mit einem Scherz. »Vielleicht hat er Angst vor dir.«

      Pia war jedoch nicht zum Scherzen zumute, dazu war sie zu aufgebracht. »Quatsch! Wieso das denn?«

      »Ich habe nur Spaß gemacht. Er könnte schüchtern sein.«

      »Eher nicht, glaube ich. Aber er geht wirklich jedem Kontakt ganz bewusst aus dem Weg. Neulich kam er von oben, mit zwei Mülltüten in der Hand, als ich auch gerade Müll nach unten bringen wollte. Und wie reagiert er? Er macht natürlich keine lockere Bemerkung darüber, sondern nickt nur knapp, schießt im Eiltempo an mir vorbei, damit wir ja nicht gleichzeitig bei den Mülltonnen ankommen und er eventuell doch drei Worte zu mir sagen muss. Als ich unten ankam, war er im Keller. Ich wette mit dir, er ist nur runtergegangen, damit er nicht riskiert, mit mir zusammen wieder nach oben steigen zu müssen.«

      »Du übertreibst, Schätzchen«, sagte Sieglinde mit mildem Tadel in der Stimme. Sie musste sich Pias Ärger über den neuen Mieter aus dem dritten Stock seit seinem Einzug jeden zweiten Tag anhören.

      »Im Gegenteil!«, widersprach Pia temperamentvoll. »Ich beschreibe sein Verhalten äußerst zurückhaltend, Tante Siggi. In Wirklichkeit benimmt er sich wie ein Schwerverbrecher, der etwas zu verbergen hat und in der panischen Angst lebt, jemand könnte ihm auf die Spur kommen.«

      Sieglinde Cornelius fing an zu lachen, sie konnte nicht anders. »Du hättest vielleicht doch Schauspielerin werden sollen«, sagte sie amüsiert. »Dein dramatisches Talent kann niemand in Abrede stellen. Jetzt lass dem Mann doch mal ein bisschen Zeit! Er ist neu im Haus, vielleicht macht er gerade eine schwere Zeit durch. Oder er legt einfach keinen besonderen Wert auf soziale Kontakte, das soll es ja geben. Was kümmert er dich denn überhaupt? Er lebt sein Leben, Valentin und du, ihr lebt eures.«

      Pia seufzte. »Er sieht aber interessant aus«, sagte sie, »und du weißt doch, wie das bei Valentin zurzeit ist. Er braucht eine weitere männliche Bezugsperson neben Onkel Kurt, einen jüngeren Mann, der in der Nähe ist, einen Vaterersatz. Er redet dauernd von den Vätern seiner Freunde, was die machen, wie sie reden, welche Ansichten sie haben – und was sie mit ihren Söhnen unternehmen. Ich kann das allein nicht ausgleichen.«

      »Das ist natürlich ein Problem«, gab Sieglinde zu. »Aber es muss doch nicht ausgerechnet ein menschenscheuer Nachbar sein, der Valentin den Vater ersetzt, oder?«

      »Er muss ihn ja nicht unbedingt ersetzen, aber wenn er wenigstens jemand wäre, mit dem Valentin ab und zu etwas unternehmen könnte, wäre schon viel gewonnen. Ehrlich, ich weiß manchmal nicht weiter. Ich bin nicht die Respektsperson, die ein Zwölfjähriger braucht, fürchte ich.«

      »Unsinn!«, widersprach Sieglinde energisch. »Du bist doch die Einzige, von der sich dein Bruder überhaupt etwas sagen lässt, und ich finde es absolut bewundernswert, wie du dich bis jetzt schlägst.«

      Pia seufzte. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, ihr jüngerer Bruder Valentin war zwölf, ein Nachkömmling, über den ihre Eltern sehr glücklich gewesen waren. Doch das Glück hatte nicht lange gedauert, er war noch ein Kleinkind gewesen, als sich bei ihrem Vater die ersten Anzeichen einer beginnenden Demenz gezeigt hatten. Seit dem vergangenen Jahr war Pia für Valentin verantwortlich, weil ihre Eltern sich nicht mehr um ihn kümmern konnten.

      Pias und Valentins Vater Emil war der Bruder ihrer Tante Sieglinde. Seine Demenz war rasch schlimmer geworden, ihre Mutter hatte ihn jahrelang allein zu Hause betreut, bis sie im letzten Jahr zusammengebrochen war. Von diesem Zusammenbruch hatte sie sich noch immer nicht wieder erholt. Jetzt lebte sie mit ihrem Mann in einer Einrichtung, wo beide gut betreut wurden, aber Pia hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ihre Mutter eines Tages doch wieder ganz gesund werden würde. Bei ihrem Vater gab es diese Hoffnung nicht.

      Pias große Stütze war ihre Tante Sieglinde, die immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte hatte. Sie und ihr Mann Kurt hätten Valentin gern bei sich aufgenommen, aber der Junge hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, obwohl er beide sehr gern hatte, denn er wollte bei Pia bleiben, nichts anderes kam für ihn infrage. Pia hatte sich schließlich bereit erklärt, es zu versuchen, und eigentlich lief es auch nicht schlecht. Aber sie war nun einmal erst sechsundzwanzig und hätte ihr Leben gern auch so unbeschwert genossen wie ihre Freundinnen und Freunde, zumindest gelegentlich. Aber daran war nicht zu denken, sie war jetzt für Valentin verantwortlich, und diese Last auf ihren Schultern drückte sie mitunter sehr.

      »Ja, eigentlich läuft es ganz gut, das stimmt schon«, sagte sie jetzt, »aber mir wird das manchmal zu viel, Tante Siggi, und dann wünsche ich mir jemanden, der mir die Last eine Weile einfach mal abnimmt.«

      »Du weißt, wir hätten das gern gemacht, aber …«

      »Ja, ich weiß. Was Valentin nicht will, das will er nicht, da hilft kein gutes Zureden. Jedenfalls: Es wäre nett gewesen, wenn ein zugänglicher, freundlicher, aufgeschlossener Mann hier ins Haus gezogen wäre, der gerne mal etwas mit einem Zwölfjährigen unternommen hätte und mit ihm die Gespräche führen könnte, die ich nicht führen kann. Ich interessiere mich nicht für Fußball oder Motorsport, ich kann diese Filme nicht ausstehen, in denen nur herumgeballert wird, ich kann mit Spielekonsolen nichts anfangen, und wie ich mit einem Jungen an der Schwelle zur Pubertät über feuchte Träume reden soll, weiß ich auch nicht.«

      Sieglinde musste wieder lachen. »Das zumindest könnte Kurt auch nicht besonders gut«, sagte sie. »Die Aufklärung unserer Töchter hat er mir überlassen – und zwar vollständig.«

      »Weil sie Mädchen waren, oder? Ich meine, bei Jungs hätte er das doch sicherlich selbst übernommen.«

      »Da bin ich mir gar nicht so sicher. Ich gebe dir einen guten Rat, Pia: Lass das auf dich zukommen. Und denk nicht mehr an euren neuen Nachbarn. Wenn er keinen Kontakt haben will, lass ihn in Ruhe.«

      »Das mache ich ja, denkst du, ich bin aufdringlich? Ich hadere nur ein bisschen mit meinem Schicksal, weil ich finde, es hätte auch jemand in die Wohnung ziehen können, der aufgeschlossener als Herr Klebert ist. Das hätte mein Leben enorm erleichtern können. So, jetzt habe ich genug gejammert, erzähl mir, was es bei euch Neues gibt.«

      »Kurt ist erkältet und wehleidig, wie viele Männer, sobald sie sich nicht ganz wohlfühlen. Er hat aber im Büro so viel zu tun, dass er es sich nicht leisten kann, mal einen Tag zu Hause zu bleiben und sich ein bisschen zu pflegen. Und meine Museumsführungen laufen weiterhin gut, ich habe genug zu tun und Freude an der Arbeit.« Sieglinde machte eine kurze Pause. »Eurem Vater geht es schlechter«, sagte sie, »aber das weißt du ja wahrscheinlich.«

      »Ja, ich war vorgestern da.«

      »Ich bin gestern bei euren Eltern gewesen. Eure Mutter weint viel, sie hat das Gefühl, dass sie versagt hat, weil sie es nicht mehr geschafft hat, sich allein um ihren Mann zu kümmern. Das lässt sie sich leider nicht ausreden.«

      »Ich weiß«, sagte Pia bedrückt. »Deshalb kommt sie ja auch nicht wieder richtig auf die Beine. Sie sorgt sich nach wie vor unablässig um Papa und vergisst sich selbst dabei.«

      »Ich habe mit dem Pflegepersonal gesprochen, und die waren auch der Ansicht, dass sie psychologische Unterstützung braucht. Sie muss sich von diesem Schuldkomplex befreien.«

      »Wenn das gelänge …«, murmelte Pia, aber sie hörte selbst, dass ihre Stimme nicht hoffnungsvoll klang.

      »Es kann gelingen, Pia! Jedenfalls ist es einen Versuch wert.«

      »Hat Papa dich erkannt?«

      Sieglinde antwortete nicht sofort. »Nein«, sagte sie dann. »Das ist das Schwerste, Pia, dass er sich an nichts mehr erinnert. Er guckt mich ratlos an, wenn ich ihm von früher erzähle, und ich kann sehen, dass er nichts mehr davon weiß. Aber wir haben zusammen gesungen, das funktioniert immer noch. Ich fange an, und nach ein paar Takten fällt er ein. Seine Stimme klingt