nur Schläge«, behauptete Valentin.
»Ich bin überzeugt, dass das nicht stimmt«, widersprach Pia.
Antonia kam ihr zu Hilfe. »Ich auch. Aber wir können dieses Gespräch jetzt leider nicht fortsetzen, Sie müssten bitte gleich mit Valentin in die Notaufnahme gehen, Frau Moor. Dr. Hillenberg wartet auf Sie, er wird die Wunde nähen.«
Valentin rührte sich nicht. »Ich will keine Spritze.«
»Gut«, erwiderte Antonia gelassen, »dann sag Dr. Hillenberg das, er näht sicher auch ohne Spritze.« Sie sagte das, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, denn natürlich würde jeder Arzt auf einer Betäubung bestehen, aber sie kannte Valentin und wusste allmählich, wie sie ihn zu nehmen hatte.
»Komm schon«, sagte Pia und packte ihren Bruder am Arm, »gehen wir. Danke, Frau Dr. Laurin, bis zum nächsten Mal.«
Antonia ertappte sich bei dem Wunsch, den beiden zu folgen, um zu erfahren, wie der Kampf um die Spritze ausgehen würde.
Sie erfuhr es dann später von ihrem Mann: Michael Hillenberg hatte sich der Wunde mit der Nadel genähert, ohne die Stelle vorher örtlich zu betäuben, und die bloße Berührung hatte schon gereicht, um Valentin eines Besseren zu belehren. Er hatte sich die Spritze mit zusammengebissenen Zähnen geben lassen und war hinterher richtig stolz auf sich gewesen.
*
Marius Klebert setzte seinen letzten Fahrgast ab und atmete auf. Er war jetzt zehn Stunden gefahren, es reichte ihm. Immerhin: Das Taxifahren ernährte ihn. Nicht so gut wie früher natürlich, aber er kam zurecht, und er hatte seine Ruhe. Er hatte ein paar Stammkunden, die er mehrmals pro Woche fuhr, die gaben auch gutes Trinkgeld. Er verdiente bislang mehr als er brauchte, aber natürlich konnten die Zeiten auch wieder einmal schlechter werden.
In seinen früheren Beruf jedenfalls würde er nicht zurückkehren. Nie mehr, nach allem, was ihm passiert war. Er versuchte, nicht zu oft daran zu denken, aber es gab Tage, an denen er die Erinnerungen einfach nicht abschalten konnte. Und Nächte, in denen ihn die Geschehnisse verfolgten, sowieso.
Heute war es gut gelaufen, das Wetter war schön, und er hatte keine Lust, in seiner Wohnung zu bleiben. Er würde einen langen Spaziergang machen und dann irgendwo eine Kleinigkeit essen.
Er hatte einen Kollegen, mit dem er sich gut verstand, einen türkischen Taxifahrer, der ein sehr netter Kerl war – mit einem Schicksal, das seinem eigenen nicht ganz unähnlich war, denn auch Ali Ucuk konnte nicht mehr in dem Beruf arbeiten, den er einmal gelernt hatte. Er war Jurist, aber um als solcher in Deutschland zu arbeiten, hätte er weitere Prüfungen machen müssen. »Da fahre ich doch lieber Taxi, schließlich muss ich meine Familie jetzt ernähren und nicht irgendwann, wenn ich mit allen Prüfungen fertig bin.«
Mit Ali traf er sich manchmal auf ein Bier, er war auch schon bei ihm zu Hause eingeladen gewesen, aber das wollte er nicht wiederholen. Keine zu engen Kontakte, keine Verpflichtungen, das war sein neuer Wahlspruch. Zum Glück kam er gut mit sich allein zurecht, er fühlte sich nicht schnell einsam, obwohl er in letzter Zeit öfter gedacht hatte, es müsste schön sein, eine Familie zu haben, in der man sich sicher fühlen konnte.
Ali hatte ihn schon mehrmals gefragt, wieso er allein war, keine Frau hatte, keine Kinder. Marius sagte dann, dass ihm die richtige Frau noch nicht begegnet sei und dass er sich gerade erst von seiner letzten Freundin getrennt habe und diese Trennung noch verarbeiten müsse. Aber das Thema schien Ali keine Ruhe zu lassen, er kam immer wieder darauf zurück. »Ein Mann wie du braucht eine Frau! Du siehst gut aus, du verdienst gutes Geld, du brauchst eine Frau und Kinder, dann würdest du auch öfter lachen.«
Marius war schon manches Mal in Versuchung gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, aber er wusste, dass das der größte Fehler gewesen wäre, den er machen konnte. Er würde seine Geschichte niemandem erzählen, er würde sie mit ins Grab nehmen, das hatte er sich fest vorgenommen.
Und er musste bald wieder umziehen, denn die Frau in der Wohnung unter ihm beunruhigte ihn. Vom ersten Moment an war das so gewesen. Er hatte sie nur einmal sehen müssen und gewusst, dass sie gefährlich für ihn war. Sie war sehr hübsch, hatte ein schönes Lächeln, eine angenehme Stimme, und sie stand mit beiden Beinen im Leben. In eine wie sie konnte man sich verlieben.
Halt, befahl er sich selbst. Denk nicht einmal dran!
Zuerst hatte er gedacht, der Junge, mit dem sie zusammenwohnte, sei ihr Sohn, obwohl ihm der Altersunterschied von Anfang an zu gering vorgekommen war. Aber dann hatte er aufgeschnappt, dass dieser Valentin ihr Bruder war, um den sie sich kümmerte, weil die Eltern es offenbar nicht mehr konnten. Das fand er bewundernswert, aber für ihn war es ein weiterer Grund, sich von ihr fernzuhalten. Er wollte sie nicht näher kennenlernen, denn ihm schien, dann würde er sich ganz sicher in sie verlieben, was angesichts seiner Geschichte wirklich katastrophal gewesen wäre – und voll bitterer Ironie. Wenn man sich verliebte, vertraute man einander seine Geheimnisse an. Soweit durfte er es also nicht kommen lassen. Sein Geheimnis musste sein Geheimnis bleiben.
Er rief Ali an und fragte, ob dieser Lust auf ein Bier habe, aber Ali war schon zu Hause. »Komm doch vorbei und iss mit uns. Wir überlegen, ob wir im Garten grillen.«
»Wenn ich das Fleisch einkaufen darf, bin ich dabei«, sagte Marius.
Das wollte Ali zuerst nicht akzeptieren, aber schließlich willigte er ein, und so machte sich Marius auf den Weg zum Metzger. Ein Grillabend im Garten war lockerer als ein Essen bei Alis Familie in der Wohnung.
An der frischen Luft würde er sich außerdem aufhalten, und die Gesellschaft von Alis lebhafter Familie würde ihn von den Gedanken an seine beunruhigende neue Nachbarin ablenken.
Das klang nach dem perfekten Plan für diesen Abend.
*
»Erklär mir das bitte noch einmal«, sagte Pia. »Wieso meinst du immer gleich, dass du dich prügeln musst?«
»Das meine ich ja gar nicht, aber wenn einer ›Weichei‹ zu mir sagt, und ich sage dann auch was Beleidigendes, dann schlägt er zu, und ich prügele mich auch, bloß, dass ich nicht angefangen habe, sondern er. Was soll daran besser sein?«
»Schlagen denn alle gleich zu?«
Valentin zuckte missmutig mit den Schultern und behauptete: »Die meisten, das gehört dazu. Man muss zeigen, dass man kein Opfer ist, dann wird man in Ruhe gelassen.«
»Und wieso lassen sie dich dann doch nicht in Ruhe? Du hast dich doch schon öfter geprügelt.«
Valentin druckste eine Weile herum, bis er sagte: »Sie denken, ich bin ein Weichei, weil bei mir zu Hause meine Schwester das Sagen hat.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Pia. »In welchem Jahrhundert leben wir denn?«
»Ein Mann muss hart und männlich sein«, sagte Valentin. »Ich bin das nicht, ich bin zu weich.«
»Und das liegt an mir?« Pia fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.
»Das behaupten sie jedenfalls.«
»Wer denn? Wer behauptet das?«
»Ach, mehrere. Wenn einer mal damit angefangen hat, machen die anderen das nach, und dann wird man das nicht mehr los.«
»Willst du jetzt doch lieber zu Tante Siggi und Onkel Kurt ziehen? Da hast du einen richtigen Mann, mit dem du zusammenleben kannst.«
Valentin schüttelte den Kopf. »Ich will bei dir bleiben«, sagte er. »Aber kannst du nicht heiraten?«
»So einen richtigen harten, männlichen Mann, meinst du? Damit diese komischen Typen, mit denen du es da zu tun hast, dich nicht mehr als ›Weichei‹ verspotten?«
Valentin grinste verlegen. »Das klingt ein bisschen blöd«, gab er zu.
»Nicht ein bisschen, es klingt komplett blöd. Ich bin nur froh, dass du das wenigstens selbst einsiehst.«
Als sie Valentins Gesicht sah, beschloss sie, das Thema zu wechseln.
Sie hatte gesagt,