Viola Maybach

Der neue Dr. Laurin 26 – Arztroman


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Beispiel ist viel mühsamer, man muss erst viel Vorarbeit leisten, und oft weiß man noch nicht einmal, ob am Ende wirklich etwas Gutes oder sogar Außergewöhnliches herauskommt. Wenn man dagegen putzt und danach alles blinkt und blitzt, wird man sofort für seinen Einsatz belohnt.«

      »Mhm«, machte Leon, »das leuchtet mir ein. Aber ich glaube, ich würde trotzdem nicht gerne ­putzen. Dann schon eher Gartenarbeit.«

      »Unkraut jäten? Sehr, sehr mühsam, kann ich nur sagen. Fast so aufwändig wie Gemüse schneiden und Kräuter hacken …«

      Sie lachten beide, dann fragte Simon: »Gibt es Neues von der Fahndung nach den Typen, die mich niedergeschlagen haben?«

      »Viel mehr als das, was in der Zeitung steht, weiß ich auch nicht, aber es soll ja eine Spur geben. Die Spurensicherung hat doch bei uns im Haus Fingerabdrücke gefunden, die sich niemandem von uns zuordnen ließen, die sich aber in einer Kartei der Polizei gefunden haben.«

      »Ich hoffe, sie finden sie«, sagte Simon. »Rachsüchtig bin ich nicht, aber sie sollen für das, was sie getan haben, bestraft werden.«

      »Der Ansicht bin ich auch. Lili hat übrigens neulich erzählt, dass aus den USA eine Einladung gekommen ist – für Sie alle.«

      »Ja, Oscar hat mir auch geschrieben.«

      Oscar Becker war der Sohn einer Cousine von Simons, Lilis und Lisas verstorbener Mutter – die drei hatten nicht gewusst, dass in den USA Verwandte von ihnen lebten. Oscar hatte sich in der Heimatstadt seiner Mutter auf die Suche gemacht und hatte die drei Kinder der Cousine seiner Mutter schließlich gefunden. Ihre Begegnung war allerdings von dem Überfall auf Simon überschattet worden. Deshalb hatte Oscar zum Abschied auch nachdrücklich auf einem baldigen Wiedersehen bestanden – in den USA.

      »Ich habe mir überlegt, dass Lili und Lisa in den Ferien in die USA fliegen könnten, ich bleibe auf jeden Fall lieber hier. Vielleicht später einmal.«

      »Als Arzt kann ich das nur befürworten. Sie lassen es besser langsam angehen, Simon.«

      »Das habe ich vor. Und mal eine Weile die Wohnung für mich zu haben, stelle ich mir auch ganz schön vor. Außerdem ist es so, dass Oscars Mutter an mir viel weniger interessiert sein wird als an Lisa, weil die ja unserer Mutter sehr ähnlich sieht. Das ist Oscar sofort aufgefallen, er kannte Jugendfotos von seiner und unserer Mutter. Ich glaube, er möchte, dass seine Mutter Lisa noch kennenlernt, sie wird ja vielleicht nicht mehr lange leben.«

      Leon nickte, er kannte die Geschichte: Oscar Beckers Mutter Elisabeth hatte einen schweren Schlaganfall erlitten, sie konnte nicht mehr gut sprechen. Aber vorher hatte sie ihrem Sohn oft von jener Cousine in München erzählt, die früher wie eine Schwester für sie gewesen war. Diese Erzählungen hatten den Sohn dann letztlich zu seiner Reise nach Deutschland bewogen. Nur hatte er die Cousine eben nicht mehr ausfindig machen können, weil sie bereits verstorben war. Aber immerhin lebten ihre drei Kinder noch – und eins dieser Kinder sah seiner verstorbenen Mutter zum Verwechseln ähnlich und trug den Namen von Oscars Mutter: Elisabeth. Lisa.

      »Wissen Lili und Lisa, dass Sie darüber nachdenken, sie in die USA fliegen zu lassen?«

      »Noch nicht, es soll eine Überraschung werden. Lisa wird zuerst nicht wollen, sie ist ja immer ein bisschen ängstlich, aber Lili wird sie davon überzeugen, dass sie fliegen müssen, weil sie sonst Oscars Mutter möglicherweise nicht mehr kennenlernen.«

      »Ich kann mir denken, dass es Ihnen schwerfallen wird, auf die Reise zu verzichten, denn Sie wollen Frau Becker ja sicherlich auch kennenlernen. Immerhin scheint sie sehr an Ihrer Mutter gehangen zu haben – und umgekehrt.«

      »Natürlich möchte ich sie kennenlernen, aber jetzt kann ich so eine weite Reise nicht machen. Das muss warten. Und ich glaube, viel wichtiger ist, dass sie die Mädchen kennenlernt, in ihnen wird sie meine Mutter wiederfinden.«

      Leon war beeindruckt von der Klugheit, die aus den Worten seines jungen Patienten sprach. Als er ihn verließ, konnte er jedenfalls Linda Erdem nur Recht geben: Simon war schon fast wieder gesund, und das allein war ein Grund, froh und dankbar zu sein.

      *

      Als Antonia Laurin sich von einer kleinen Patientin und deren Vater verabschiedete, sagte Carolin Suder, die vorne am Empfang saß und für einen reibungslosen Ablauf in der Kinderarztpraxis von Antonia und ihrer Kollegin Maxi Böhler sorgte: »Frau Moor ist gerade mit ihrem Bruder gekommen, Frau Doktor. Er hat eine ziemlich heftig blutende Wunde an der Stirn. Mal wieder.«

      »Dann ziehen wir ihn vor. Wie sind wir denn in der Zeit?«

      »Alles gut, kaum Verspätung«, erwiderte Carolin und ging zum Wartezimmer, um Pia Moor und ihren Bruder ins Sprechzimmer zu bitten.

      In der Tat: Der Mull, den der Junge auf seine Wunde presste, war blutdurchtränkt. Er war blass, sah jedoch eher wütend und gekränkt aus als schmerzgeplagt.

      »Was ist denn passiert?«, fragte Antonia ihn, als er auf der Untersuchungsliege Platz genommen hatte und sie vorsichtig den Mull abzog, um sich die Wunde genauer anzusehen.

      Pia Moor schwieg, sie ließ meistens ihren Bruder reden, wenn sie der Ansicht war, dass er eine Frage besser beantworten konnte als sie. Also war sie bei dem Unfall – oder was immer zu dieser Wunde geführt hatte – nicht dabei gewesen.

      »Da ist mir jemand blöd gekommen«, nuschelte Valentin.

      Er war ein hübscher, lang aufgeschossener Junge, schon jetzt fast so groß wie seine vierzehn Jahre ältere Schwester. Beide hatten braune Haare, aber bei Pia Moor waren sie lang und glatt, bei ihrem Bruder kurz und lockig. Er hatte außerdem Sommersprossen auf der Nase, die bei seiner Schwester fehlten. Ihr Gesicht war eher schmal und fein geschnitten, seins war rund, die braunen Augen blickten angriffslustig in die Welt.

      »Blöd gekommen?«, fragte Antonia, während sie die Wunde untersuchte.

      »Na ja, der hat mich als Weichei bezeichnet, da musste ich ihm natürlich eine reinhauen, und danach hat er mir eine reingehauen, und dann kam noch ein Kumpel, der ihm geholfen hat, zu zweit haben sie mich geschubst, und ich bin geflogen und auf ’ner scharfen Kante gelandet.« Valentin hatte schnell gesprochen und weiterhin in diesem nuscheligen Ton, ohne seine Schwester oder Antonia anzusehen. Gegen Ende seines Berichts war seine Stimme immer leiser geworden. Es war offensichtlich, dass er den Kampf, bei dem er gegen zwei Gegner den Kürzeren gezogen hatte, als schwere und unverdiente Niederlage ansah und auf Rache sann.

      »Das ist eine ziemlich tiefe Wunde, Valentin. Ich würde sagen, sie sollte genäht werden, da wird ein Klammerpflaster nicht ausreichen. Ich frage gleich mal drüben in der Klinik nach, ob sie das in der Notaufnahme sofort nähen können.«

      Valentins Stimmung änderte sich, das merkte sie, während sie telefonierte und den Fall schilderte. Ihre Praxis war direkt mit der Kayser-Klinik verbunden, sie befand sich in den Räumlichkeiten, die durch einen Erweiterungsbau entstanden waren. Maxi und sie arbeiteten eng mit der Klinik zusammen, das hatte sich von Anfang an als Vorteil für beide Seiten erwiesen.

      »Nähen?«, fragte Valentin, als sie ihr Gespräch beendet hatte. »Ich … muss ich da eine Spritze kriegen?«

      »Eine kleine, ja«, antwortete Antonia.

      Er biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass er Angst vor Spritzen hatte, seine Schwester, die noch immer nichts gesagt hatte, wusste es auch.

      Jetzt ergriff sie zum ersten Mal das Wort. »Vielleicht hilft dir das, in Zukunft erst nachzudenken, bevor du dich auf jemanden stürzt und dich mit ihm prügelst«, sagte sie in sachlichem Tonfall. »Was ist das überhaupt für eine Art? Nur weil jemand ›Weichei‹ zu dir sagt, haust du ihm eine rein?«

      »Ich kann mir das nicht gefallen lassen«, behauptete Valentin, »sonst wird das jeden Tag schlimmer. Man muss sich wehren, sonst wird man ein Opfer.«

      »Opfer?«

      »Ja, zuerst wirst du beschimpft, dann bedroht, dann verprügelt. Man muss sich Respekt verschaffen.«

      »Das geht auch anders«, sagte Antonia.