Louise Penny

Tief eingeschneit


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der Ermittlungen im Fall Jane Neal kennengelernt.«

      »Ja, Sir.«

      »Was kann ich für Sie tun, mein Junge?«

      »Es gab einen Mord hier.«

      Nachdem er sich die Eckdaten hatte durchgeben lassen, legte Gamache auf und sah seine Frau an. Sie saß ruhig und gefasst in ihrem Sessel.

      »Hast du deine langen Unterhosen?«, fragte sie.

      »Ja, Madame.« Er zog die oberste Schreibtischschublade auf und zeigte ihr einen Packen dunkelblaue Seide.

      »Bewahren dort nicht die meisten Polizisten ihre Waffe auf?«

      »Ich finde, eine lange Unterhose ist Schutz genug.«

      »Da bin ich aber froh.« Sie umarmte ihn. »Ich gehe jetzt besser, mein Schatz. Auf dich wartet Arbeit.«

      Von der Tür aus sah sie ihm zu, wie er seine Anrufe tätigte, mit dem Rücken zum Raum, vor sich die Skyline von Montréal. Sie kannte jede seiner Bewegungen in- und auswendig, sah die leicht gelockten Haare in seinem Nacken und musterte die starke Hand, die den Hörer gegen das Ohr hielt.

      Innerhalb von zwanzig Minuten war Armand Gamache auf dem Weg zum Tatort, seine rechte Hand Inspector Jean Guy Beauvoir saß am Steuer. Sie nahmen die Champlain-Brücke Richtung Autobahn für die anderthalbstündige Fahrt ins Herz der Eastern Townships.

      Gamache starrte ein paar Minuten aus dem Fenster, dann schlug er noch einmal das Buch auf und las das Gedicht zu Ende, dessen Anfang Reine-Marie ihm vorgelesen hatte.

      Wenn mein Tod uns scheidet,

      Dann sollen Vergeben und Vergebenes eins werden.

      Oder wird es, wie immer, zu spät sein?

      9

      »Ihr Name war Cecilia de Poitiers«, sagte Agent Robert Lemieux als Antwort auf Gamaches erste Frage. »Aber alle nannten sie CC. Das ist die Stelle, an der es passiert ist, Sir.« Lemieux versuchte, nicht allzu beflissen zu klingen. Andererseits wollte er auch nicht gleichgültig klingen. Er straffte die Schultern und bemühte sich darum, so auszusehen, als wüsste er, was er tat.

      »Hier?« Gamache beugte sich über den Schnee.

      »Ja, Sir.«

      »Woher wissen Sie das?«, fragte Jean Guy Beauvoir. »Hier sieht es doch überall gleich aus.«

      Das war tatsächlich so. Fußabdrücke im Schnee, so weit das Auge reichte. Genauso gut hätte die Santa-Claus-Parade über den Tatort marschiert sein können. Beauvoir zog sich seine schwarze Skimütze tiefer ins Gesicht und klappte die Ohrenschützer herunter. Diese Kopfbedeckung kam dem, was er unter kleidsam verstand, noch am nächsten und war einigermaßen warm. Jean Guy Beauvoir befand sich in einem ständigen Konflikt mit sich selbst, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Sachen zu tragen, die seinen schlanken, athletischen Körper zur Geltung brachten, und dem Bedürfnis, sich dabei nicht seinen knackigen Hintern abzufrieren. Der Winter in Québec machte es einem praktisch unmöglich, gleichzeitig gut auszusehen und warm angezogen zu sein. Und Jean Guy Beauvoir legte ganz gewiss keinen Wert darauf, mit Anorak und Ringelmütze eine lächerliche Figur abzugeben. Er blickte zu Gamache, der so gesetzt wirkte, und fragte sich, ob ihm genauso kalt war wie ihm selbst und er es nur nicht zeigte. Der Chief trug eine graue Pudelmütze, einen gelben Kaschmirschal und eine lange Daunenjacke in einem dunklen Beige. Er schien nicht zu frieren. Beauvoir war verblüfft, wie hübsch warm ein Anorak, eine merkwürdige Mütze, dicke Fäustlinge und all dieses Zeug bei minus zehn Grad aussahen. Ihn beschlich der Verdacht, dass möglicherweise er derjenige war, der merkwürdig aussah. Er schob diesen unerfreulichen Gedanken schnell beiseite, und schon fuhr ihm ein Windstoß durch seine schicke Fliegerjacke hindurch bis in die Knochen. Bibbernd trat er auf der Stelle. Sie standen auf einem zugefrorenen See, kalt und öde. Das diesseitige Ufer lag ungefähr hundert Meter hinter ihnen, das andere Ufer war nichts weiter als ein dunkler Strich in der Ferne. Beauvoir wusste, dass hinter der Landspitze, die sich zu ihrer Linken erhob, Williamsburg lag, aber momentan hatte er das Gefühl, dass sie sich fernab jeglicher Zivilisation befanden. Zumindest standen sie an einer Stelle, an der etwas sehr Unzivilisiertes geschehen war.

      Genau hier war jemand ermordet worden.

      Leider hatte zum betreffenden Zeitpunkt niemand etwas bemerkt.

      »Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen«, sagte Gamache zu Lemieux.

      Das war immer einer der schönsten Momente, wie Beauvoir fand. Der Beginn eines neuen Rätsels. Aber Gamache wusste, dass dieses Rätsel, wie bei jedem Mord, vor langer Zeit begonnen hatte. Das hier war weder der Anfang noch das Ende.

      Gamache ging etwas weiter auf den See hinaus, unter seinen Schritten brach die dünne Schicht Harsch, und seine Stiefel sanken in den weicheren Schnee darunter. Gamache spürte an seinen Knöcheln das verräterische Rieseln von Wassertropfen und wusste, dass der Schnee den Weg in seine Stiefel gefunden hatte.

      »Laut Zeugenaussagen ist das Opfer einfach zusammengebrochen«, sagte Lemieux mit Blick auf den Chief, um herauszufinden, ob diesem seine Antworten genügten. Er wirkte unzufrieden, und Lemieux krümmte sich innerlich. Hatte er jetzt schon etwas falsch gemacht? »Sie haben versucht, sie wiederzubeleben, weil sie dachten, es wäre ein Herzanfall, dann haben sie sie auf einen Pritschenwagen gelegt und ins Krankenhaus gebracht.«

      »Sie sind also auf dem gesamten Tatort herumgetrampelt«, sagte Beauvoir, als wäre das Lemieux’ Schuld.

      »Ja, Sir. Ich denke, sie haben ihr Bestes getan.«

      Lemieux wartete auf eine weitere Rüge, doch sie blieb aus. Stattdessen schnaubte Beauvoir, und Gamache sagte: »Fahren Sie fort.«

      »Der Arzt in der Notaufnahme, ein Dr. Lambert, hat etwa eine halbe Stunde später die Polizei benachrichtigt. Ungefähr um halb zwölf heute Mittag. Er sagte, er habe einen ungeklärten Todesfall. Er habe den Leichenbeschauer kommen lassen, und es sehe so aus, als sei das Opfer durch einen Stromschlag getötet worden. Wie schon gesagt, offiziell hat er es als ungeklärten Todesfall bezeichnet, das muss er, bis amtlicherseits erklärt wird, dass es sich um einen Mord handelt, aber als wir ins Krankenhaus kamen, hat er deutlich gemacht, dass für ihn kein Zweifel besteht. Sie wurde ermordet.«

      »Bitte benutzen Sie ihren Namen, Agent«, sagte Gamache ohne Tadel in der Stimme. »Wir sollten Madame de Poitiers als Menschen betrachten.«

      »Ja, Sir. Sie, Madame de Poitiers, wurde genau hier durch einen Stromschlag getötet.«

      Das hatte Lemieux auch am Telefon gesagt, es hatte schon seltsam genug geklungen, als Gamache es in seinem Büro gehört hatte, aber hier am Tatort erschien es noch seltsamer.

      Wie konnte jemand mitten auf einem zugefrorenen See durch einen Stromschlag getötet werden? Früher konnte man in der Badewanne jemanden auf diese Weise umbringen, aber das war zu Zeiten, bevor in den meisten Elektrogeräten ein Fehlerstrom-Schutzschalter eingebaut war. Warf man seiner besseren Hälfte heutzutage einen Toaster in die Wanne, hatte das lediglich zur Folge, dass die Sicherung rausflog, das Gerät seinen Geist aufgab und der oder die Liebste ziemlich sauer war.

      Nein. Heutzutage war es nahezu unmöglich, jemanden mit Strom umzubringen, es sei denn, man war der Gouverneur von Texas. Es auf einem zugefrorenen See zu tun, vor den Augen Dutzender von Zeugen, wäre der reine Wahnsinn.

      Aber jemand war wahnsinnig genug gewesen, es zu wagen.

      Und jemand war schlau genug gewesen, es zu schaffen.

      Wie? Gamache sah sich langsam um, aber er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Ganz sicher schmorten auf dem Eis keine alten Fernsehgeräte oder Toaster vor sich hin. Es standen jedoch drei Gartenstühle aus Metall im Schnee, von denen einer umgekippt war. Hinter den Stühlen ragte etwas in die Höhe, das wie ein riesiger verchromter Pilz aussah, etwa fünf Meter hoch. Ungefähr sieben Meter weiter links standen ein paar Zuschauerbänke.

      Alles war zum See hin ausgerichtet, zu einer freigeräumten Fläche auf dem Eis, sieben, acht Meter von den Bänken entfernt. Gamache lief