Louise Penny

Tief eingeschneit


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Haus an demselben Abend gehalten. Clara entdeckte Em, die die Runde machte, und legte ihr den Arm um die schmale Taille.

      »Kann ich dir helfen?«

      »Nein, meine Liebe. Ich will nur sichergehen, dass es allen gut geht.«

      »Uns geht es hier immer gut«, sagte Clara wahrheitsgemäß, gab Em einen zarten Kuss auf beide Wangen und schmeckte Salz. Sie hatte an diesem Abend geweint, und Clara wusste, warum. Zu Weihnachten waren die Häuser voll von den Menschen, die anwesend waren, und denen, die abwesend waren.

      »Wann nimmst du eigentlich endlich deinen Weihnachtsmannbart ab?«, fragte Gabri, der neben Ruth auf dem abgewetzten Sofa am Feuer saß.

      »Miststück«, murmelte Ruth.

      »Schlampe«, sagte Gabri.

      »Seht mal da.« Myra ließ sich neben Ruth aufs Sofa fallen, ihr Gewicht katapultierte die anderen beiden beinahe in die Höhe. Myrna deutete mit ihrem Teller zu einer Gruppe junger Frauen, die beim Weihnachtsbaum standen und über den Sitz ihrer Frisuren klagten. »Die Mädchen da denken, dass mit ihren Haaren was nicht stimmt. Die werden schon noch sehen.«

      »Stimmt«, sagte Clara, die sich suchend nach einem Stuhl umsah. Überall standen Leute herum, die auf Französisch und Englisch miteinander quasselten. Schließlich setzte sie sich auf den Boden und stellte ihren voll beladenen Teller auf den Sofatisch. Peter gesellte sich zu ihr.

      »Um was geht’s?«

      »Haare«, sagte Myrna.

      »Rette dich«, sagte Olivier und streckte die Hand nach Peter aus. »Für uns ist es zu spät, aber du kannst noch davonkommen. Soweit ich weiß, ist auf dem anderen Sofa eine Diskussion über Prostataprobleme im Gange.«

      »Setz dich.« Clara zog Peter an seinem Gürtel nach unten. »Die Mädchen dort denken, dass sie ein Problem haben.«

      »Die werden schon noch sehen, wie es erst ist, wenn die Wechseljahre kommen«, fuhr Myrna fort.

      »Prostata?«, fragte Peter Olivier.

      »Und Hockey«, seufzte er.

      »Hört ihr Kerle zu?«

      »Es ist wirklich schlimm, eine Frau zu sein«, sagte Gabri. »Erst kriegen wir unsere Tage, dann verlieren wir unsere Jungfräulichkeit an euch Tiere, dann verlassen die Kinder das Haus, und wir geraten in eine Sinnkrise …«

      »Nachdem wir die besten Jahre unseres Lebens an undankbare Widerlinge und egoistische Kinder vergeudet haben«, nickte Olivier.

      »Kaum haben wir uns dann für einen Töpferkurs und ein Kochseminar angemeldet, bums …«

      »Oder auch nicht«, sagte Peter und lächelte Clara an.

      »Pass auf, was du sagst, Bürschchen.« Sie piekste ihn mit ihrer Gabel.

      »Wechseljahre«, sagte Olivier mit einer sonoren Radio-Ansagerstimme.

      »Mir haben Hitzewallungen immer Spaß gemacht«, zwitscherte Gabri.

      »Das erste graue Haar. Erst dann stimmt etwas nicht mit den Haaren, vorher nicht«, sagte Myrna, ohne den Männern Beachtung zu schenken.

      »Wenn das erste aus deinem Kinn wächst«, sagte Ruth. »Dann stimmt erst recht was nicht.«

      »Oh, das ist wahr!« Lachend gesellte sich Mother zu ihnen. »Die langen drahtigen.«

      »Vergiss nicht den Schnurrbart«, sagte Kaye und ließ sich auf dem Platz nieder, den Myrna ihr angeboten hatte. Gabri stand auf, damit Mother sich setzen konnte. »Wir haben ein feierliches Abkommen getroffen.« Kaye nickte zu Mother und blickte dann zu Em, die sich mit ein paar Nachbarn unterhielt. »Wenn eine bewusstlos im Krankenhaus liegt, sorgen die anderen dafür, dass es entfernt wird.«

      »Das Beatmungsgerät?«, fragte Ruth.

      »Das Kinnhaar«, sagte Kaye und blickte Ruth leicht alarmiert an. »Ich streiche dich von der Besucherliste. Mother, mach dir bitte eine Notiz.«

      »Ach, das habe ich mir schon vor Jahren notiert.«

      Clara trug ihren leer gegessenen Teller zum Büfett zurück und kehrte kurz darauf mit Trifle, Schokoladenkuchen und einer kleinen Lakritzauswahl zurück.

      »Die habe ich den Kindern geklaut«, sagte sie zu Myrna. »Du solltest dich beeilen, wenn du welche willst. Die wissen langsam, was gut ist.«

      »Ich esse einfach deine«, sagte Myrna und hätte sich auch eine Lakritzpfeife geschnappt, wenn nicht eine Gabel ihre Hand bedroht hätte.

      »Ihr Süchtigen seid wirklich furchtbar.« Myrna blickte auf Ruths Vase, aus der die Hälfte des Scotchs verschwunden war.

      »Da liegst du falsch«, sagte Ruth, die Myrnas Blick gefolgt war. »Das war einmal meine Lieblingsdroge. Als Heranwachsende war es Anerkennung, in meinen Zwanzigern war es Wertschätzung, in meinen Dreißigern Liebe, in meinen Vierzigern war es Scotch. Das hielt eine ganze Weile an«, gab sie zu. »Das Einzige, wonach ich mich jetzt noch wirklich sehne, ist eine gute Verdauung.«

      »Ich bin süchtig nach Meditation«, sagte Mother, die gerade ihre dritte Portion Trifle aß.

      »Das wäre übrigens eine Idee.« Kaye wandte sich an Ruth. »Du könntest Mother im Zentrum besuchen. Beim Meditieren kannst du jeden Scheiß loswerden.«

      Schweigen breitete sich auf diese Bemerkung hin aus. Clara kämpfte darum, das eklige Bild, das vor ihrem inneren Auge aufgetaucht war, wieder loszuwerden, und war froh, als Gabri ein Buch von dem Stapel unter dem Sofatisch nahm und es in die Höhe hielt.

      »Da wir gerade von Scheiß sprechen, ist das nicht CCs Buch? Em muss es während deiner Signierstunde gekauft haben, Ruth.«

      »Sie hat wahrscheinlich genauso viele Bücher verkauft wie ich. Ihr seid alle Verräter«, sagte Ruth.

      »Das müsst ihr euch anhören.« Gabri schlug Be Calm auf, und Clara bemerkte, dass Mother Anstalten machte, sich zu erheben, aber Kaye legte ihr eine ihrer Klauen auf den Arm und zwang sie, sitzen zu bleiben.

      »Daher«, las Gabri, »leuchtet es sicherlich ein, dass Farben wie Gefühle schädlich sein können. Es ist kein Zufall, dass negativen Gefühlen Farben zugeordnet werden, zum Beispiel Rot für den Zorn, Grün für den Neid, Blau für die Traurigkeit. Aber wenn man alle Farben zusammenmischt – was bekommt man dann? Weiß. Weiß ist die Farbe des Göttlichen, der Balance. Unser Ziel ist Balance. Die erreicht man nur, wenn man die Gefühle in seinem Inneren bewahrt, am besten unter einer Schicht Weiß. Das ist Li Bien, eine altehrwürdige Lehre. In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie lernen, Ihre wahren Gefühle zu verbergen, sie vor einer kalten und voreingenommenen Welt zu schützen. Li Bien ist die alte chinesische Kunst, Farbe im Inneren aufzutragen. Die Farben, die Gefühle werden innen bewahrt. Nur so lassen sich Frieden, Harmonie und Ruhe erreichen. Wenn wir alle unsere Gefühle in uns behielten, gäbe es keinen Zwist, keine Bosheit, keine Gewalt, keinen Krieg. Mit Be Calm biete ich Ihnen und dieser Welt Frieden und Ruhe.« Gabri klappte das Buch zu. »Das war nicht gerade Li Bien, was heute Abend aus dem Yin-Yang kam.«

      Peter fiel in das Gelächter der anderen ein, aber er vermied es, einem von ihnen in die Augen zu sehen. Insgeheim, unter seiner weißen Haut, stimmte Peter CC zu. Gefühle waren gefährlich. Gefühle wurden am besten unter einer ruhigen und friedlichen Maske verborgen.

      »Das verstehe ich nicht«, sagte Clara, die durch das Buch blätterte und an einer bestimmten Passage hängen geblieben war.

      »Und den anderen Kram schon?«, fragte Myrna.

      »Na ja, nein, aber hier heißt es, dass sie ihre Lebensphilosophie in Indien erworben hat. Vorher hieß es doch, dass Li Bien chinesisch ist, oder?«

      »Du suchst tatsächlich nach einem Sinn in dem Ganzen?«, fragte Myrna. Clara hatte sich wieder über das Buch gebeugt, und ihre Schultern fingen an zu zucken, schließlich bebte sie am ganzen Leib und blickte zu ihren Freunden auf, die sich schon Sorgen machten.

      »Was